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Weltweit werden mehr Lebensmittel produziert als je zuvor. Trotzdem steigen die Hungerzahlen seit sechs Jahren wieder und drohen sich bis 2030 sogar der Milliardengrenze zu nähern.

Wiards/Welthungerhilfe 2017

Der United Nations Food System Summit (UNFSS) hat sich kürzlich dem notwendigen Wandel unseres globalen Ernährungssystems gewidmet. Er war ein groß angelegter UN-Gipfel, der Ende September 2021 im Rahmen der UN-Generalversammlung in New York stattfand.

Der Begriff Ernährungssystem ist komplex (von Braun et al. 2021a; Nguyen 2018). Er umfasst die Art und Weise, wie Nahrungsmittel produ­ziert, gehandelt, verarbeitet und kon­sumiert werden inklusive der betei­ligten Akteurinnen und Akteure und den entsprechenden sozioökonomi­schen und ökologischen Auswirkun­gen ihres Handelns (Welthungerhilfe 2019).

Bereits seit der Ankündigung des Gipfels im Oktober 2019 arbeitete eine Vielzahl von Fachkräften in unterschiedlichen Arbeitssträngen und Themenbereichen. So fanden über 1.500 verschiedene Dia­loge statt, an denen – laut Veranstalten­den – über 100.000 Teilnehmende be­teiligt waren (United Nations Food System Summit 2021a), und deren Ergebnisse in den Gipfel einfließen sollten (Patton et al. 2021). Zudem flankierte ein hochka­rätiges Wissenschaftsgremium den Gip­fel, das dafür sorgen sollte, dass wissen­schaftliche Erkenntnisse angemessen in den Verhandlungen widergespiegelt und aufgegriffen werden (von Braun et al. 2021b). Dies beinhaltete zum Beispiel auch eine (Neu-)Definition des Begriffs „Healthy Diet“ (Neufeld et al. 2021). Die­ses Gremium veröffentlichte eine Reihe von Publikationen (United Nations Food Systems Summit – Scientific group 2021), organisierte die „Science days“ und er­möglichte die Organisation von wissen­schaftlichen Fachpodien, deren Ergeb­nisse als „independent dialogues“ in die Ausgestaltung des Gipfels einflossen.

Das große Interesse an diesem Prozess kumulierte in einem virtuellen Vorgipfel Ende Juli in Rom mit 22.000 Teilnehmen­den und im Hauptgipfel in New York, zu dem 157 Delegierte der UN-Mitglieds­staaten auf Einladung von UN-General­sekretär António Guterres zugeschaltet waren.

Beim Hauptgipfel verpflichteten sich über 150 Staaten in „national pathways“ dazu, ihr eigenes nationales Ernährungssystem auf die jeweils passende Weise und in der ihnen vorschwebenden Tiefe zu transfor­mieren.

Zudem wurden nichtstaatliche Ak­teure aufgerufen sich zu äußern, wie ihr verpflichtender Beitrag zur Ver­besserung der Ernährungssysteme aussehen wird.

Kritik

Seit den frühesten Planungen gab es von verschiedenen Seiten und aus ver­schiedenen Gründen Kritik am UNFSS-Prozess. Wichtigster Punkt war das Mul­tiakteursformat. Dieser für UN-Verhält­nisse neue Ansatz nimmt Nationalstaa­ten aus der direkten Verantwortung, eine Systemwende zu initiieren sowie zu kanalisieren, und definiert unter an­derem Vertretende von Konzernen, die maßgeblich an nichtnachhaltigen Sys­temen beteiligt sind, zu legitimen Ver­handlungspartnern.

Dieser und weitere Kritikpunkte führten zu einem „Gegengipfel“ (Food Systems 4 People 2021) im Juli 2021, an dem rund 9.000 Menschen teilnahmen. Dort dis­kutierten vor allem Vertretungen zivilge­sellschaftlicher Organisationen und in­digener Gruppen alternative Wege für eine Transformation des globalen Er­nährungssystems. Im Zentrum standen menschenrechtsbasierte und agraröko­logische Ansätze, Nutzen und Anwen­dung traditionellen Wissens sowie Er­nährungssouveränität.

Der Gipfel

Der Gipfel selbst war als fundamenta­ler „game-changer“ angekündigt wor­den: Er sollte die Pole des globalen Er­nährungssystems radikal neu ausrich­ten und wesentlich zu seiner nachhal­tigeren Ausgestaltung beitragen. Aber die Erwartungen an den Gipfel waren zu hoch, die von allen erwartete Weichen­stellung für ein neues globales Ernäh­rungssystem blieb aus.

Offene Fragen

Wesentliche Probleme des Gipfels sind

  • Freiwilligkeit der Verpflichtungen,
  • von ganz unterschiedlichen Ak­teuren und Akteursgruppen abgege­bene Vielfalt an „commitments“ zu einzelnen Aktionen/Veränderungen,
  • Umsetzungskontrolle der Selbst­verpflichtungen,
  • Gefahr, dass Staaten ihrer Ver­antwortung nicht gerecht werden und sich nicht in der Pflicht sehen, die Weichenstellungen für eine tat­sächliche Systemtransformation vor­zunehmen,
  • Fehlen einer radikalen systemi­schen Neuordnung zugunsten zahl­reicher nationaler Aktionspläne – Lö­sungsstrategien, die auf die jeweili­gen nationalen Belange ausgerichtet sind.

Diskussion

Zwar ist es richtig und wichtig, kon­textspezifische Lösungen zu entwickeln, die auch kulturelle und naturräumli­che Faktoren als Kernelemente beinhal­ten, die Herausforderungen unserer Er­nährungssysteme aber enden nicht an Staatsgrenzen. Wesentliche Aspekte wie internationale Handelsströme, Wasser-und Stoffkreisläufe, jedoch auch finan­zielle und politische Ungleichgewichte zwischen Staaten und Regionen müssen zentral mitgedacht werden.

Um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirkungsvoll zu begeg­nen, darf es nicht nur zu einer margi­nalen Optimierung des bisherigen Er­nährungssystems kommen, im Gegen­teil: Das Ernährungssystem muss an zentralen Stellen und in zentralen Pro­zessen neu gedacht und neu aufgerollt werden.

Bei aller Kritik am UN-Gipfel bleibt al­lerdings festzuhalten, dass der Wan­del des globalen Ernährungssystems seitdem prominent in der Agenda der internationalen Staatengemeinschaft verankert ist – zumindest im Moment. Das ist für sich genommen ein Erfolg, auch wenn er nicht den aktuellen An­sprüchen genügt.

Ausblick

Im Nachgang des Gipfels wird es ers­tens darauf ankommen, Aufbau und Ausgestaltung nachhaltiger Ernäh­rungssysteme auch weiterhin als es­senzielle Bausteine der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu ver­stehen. Ernährungssysteme müssen Chefsache bleiben.

Zweitens kommt es darauf an, kurz-, mittel- und langfristig die Erfüllung und Ausgestaltung der Commitments zu begleiten, zu überwachen und kon­sequent nachzuverfolgen. Es ist drin­gend geboten, vor allem die Stakehol­der in die Pflicht zu nehmen, die jetzt mit ihren Selbstverpflichtungen offen­siv an die Öffentlichkeit treten.

Drittens werden sich die nationalen Ak­tionspläne (United Nations Food System Summit 2021b) vor allem daran mes­sen lassen müssen, ob sie die Situati­on der Menschen verbessern, die von den sozialen und ökologischen Folgen des existierenden Ernährungssystems am stärksten betroffen sind: indigene und andere sozial benachteiligte Grup­pen vor allem im globalen Süden. Da­zu sind auch im globalen Norden sys­temische (Politik-)Folgeabschätzungen notwendig, die überprüfen, wie sich wirtschaftliche und p olitische Initiativen auf die Ernährungssysteme im glo­balen Süden auswirken. Vor allem die Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung muss hier eine zentrale Rolle spielen.

Viertens müssen Machtungleichheiten im globalen Finanz- und Handelssys­tem dauerhaft überwunden werden, denn nur so lassen sich wirklich nach­haltige Ernährungssysteme entwickeln und implementieren.

 

Artikel erschienen in Ernährung im Fokus 04 2021

Den kompletten Artikel können Sie hier herunterladen:

Wo bleibt die Trendwende im globalen Ernährungssystem? (kostenloser Download, PDF, 237 KB)

 

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Wiards/Welthungerhilfe 2017

Towards a paradigm shift in the global food system?

The United Nations Food System Summit 2021

More food is being produced worldwide than ever before. At the same time, hunger figures have been rising again and now threaten to breach the one billion mark by 2030.

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