Mit dem Modell der Salutogenese hat Antonovsky einem wichtigen Perspektivwechsel den Weg geebnet: der Frage nachzugehen, was gesund erhält statt zu fragen, was krank macht. „Salus“ lässt sich als Wohlergehen oder Gesundheit übersetzen, „Genese“ bedeutet Entstehung. Während die Ernährungswissenschaften von der Idee getragen sind, dass unter anderem die Inhaltsstoffe der Lebensmittel über Gesundheit und Krankheit entscheiden, geht Antonovsky davon aus, dass die Psyche den Körper massiv beeinflussen kann. Im Zentrum steht dabei das Konzept des „Sense of Coherence“ (Kohärenzgefühl). Die unterschiedlichen individuellen Ausprägungen des Kohärenzgefühls sollen ausschlaggebend dafür sein, wie gesund und wie lange jemand den Widrigkeiten des Lebens standhält. Denn für Antonovsky besteht Gesundheit in der Möglichkeit, sein eigenes Leben einigermaßen gut zu gestalten und die Anforderungen und Belastungen im Alltag meistern zu können.
Das Kohärenzgefühl besteht aus folgenden drei Komponenten:
- Verstehbarkeit bedeutet, dass das, was passiert, nachvollziehbar ist. Es geschieht nichts Unerklärliches. So weiß eine Person mit Laktoseintoleranz zum Beispiel, was passierte, wenn sie literweise Milch tränke und versteht, dass sie das lieber nicht tun sollte.
- Handhabbarkeit meint die Kompetenz, „dass man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen,die von den Stimuli, mit denen man konfrontiert wird, ausgehen.“ Eine Person, die weiß, dass sie einem Brunch am Sonntagvormittag schwer widerstehen kann und ziemlich häufig zum Buffet gehen wird, kann den verlockenden Stimuli beispielsweise begegnen, indem sie als eine der letzten zum Buffet geht, nur das auf den Teller legt, was ihr am besten schmeckt, gemächlich zu ihrem Tisch zurückkehrt und ganz langsam und bewusst isst.
- Bedeutsamkeit ist für Antonovsky die wichtigste Komponente. Sie verleiht dem Verstehen der Welt und ihrer Handhabbarkeit den motivationalen Sinnhorizont: Das Leben, das ich lebe, ist für mich hochinteressant und sinnvoll. Die Person, die sich beim Brunch fast unwiderstehlich vom Buffet angezogen fühlt, beginnt zu verstehen, warum das so ist und wird vielleicht gar keine Vermeidungsstrategien mehr entwickeln müssen, sondern wird den Brunch genießen und davor und danach weniger essen oder sich mehr bewegen.
Antonovsky war skeptisch, ob das Kohärenzgefühl überhaupt zu verändern ist, weil es auf sozialen und kulturellen Faktoren wie sozioökonomischem Status und Bildungsniveau basiert. In jedem Falle kann die Ernährungsberatung eine Plattform sein, um am Kohärenzgefühl zu arbeiten. So können Klientinnen und Klienten durch eine bessere Ernährungskompetenz ihr subjektives Wohlbefinden steigern und langfristig ihre Gesundheit fördern, ohne ständig den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Essen und Gesundheit im Blick zu haben.
Mehr über das Modell der Salutogenese nach Antonovsky lesen Sie in der Ernährung im Fokus Sonderausgabe 01 2022 „Ernährungspsychologie – Werkzeug für die Beratung“. Das Sonderheft gibt einen Überblick über verschiedene psychologische Schulen und zeigt Anknüpfungspunkte für die Ernährungsberatung.
Melanie Kirk-Mechtel, Fachautorin und Online-Redakteurin, Bonn