Ein Ochsengespann zieht tiefe Furchen in die rote Erde. Lange Reihen hellgrüner Lauchstängel leuchten in der Sonne. In Gewächshäusern sprießen Setzlinge. Männer in Gummistiefeln
schieben Schubkarren voller Kohl- und Salatköpfe über den Weg in Richtung Verkaufsstand. Eine ganz normale Gemüsegärtnerei – wären da nicht die löchrigen, von der Tropensonne gebleichten Hochhausfassaden aus Waschbeton, die aufgekratzten Kinderstimmen vom Schulhof und das Röhren der Linienbusse auf der breiten Straße, die aus dem Zentrum Havannas in Richtung Osten führt. Selten verirren sich Touristen nach Alamar, eine in den 1970er-Jahren gebaute Plattenbausiedlung für 80.000 Bewohner am Rande der Hauptstadt. Hier liegt mit dem Organiponico El Vivero einer der besten urbanen Gärten Kubas.
Urban Gardening – staatlich verordnet
Urban Gardening begeistert weltweit. Der Anbau von Lebensmitteln mitten in der Stadt schafft grüne Oasen, versorgt Nachbarschaften mit frischem Salat und Gemüse ohne lange Transportwege und löst die Grenzen zwischen Verbrauchern und Produzenten auf. In Europa und Nordamerika ist Urban Gardening vor allem ein grünes Zukunftslabor für Aussteiger, alternative Stadtplaner, Spitzenköche oder Ökoaktivisten. Auf Kuba hat es die sozialistische Regierung in allen Städten der Insel eingeführt und institutionalisiert. Und das vor über zwanzig Jahren. „Das war verrückt damals, alle geeigneten Flächen in der Stadt sollten plötzlich landwirtschaftlich genutzt werden“, erinnert sich Norma. Die Phytomedizinerin ist ein alt gedientes Mitglied bei
El Vivero. Sie konnte sich von Anfang an für die Idee begeistern. „Eigentlich waren auf der Freifläche zwischen den Hochhäusern Sportanlagen geplant.“ Doch die schwere Versorgungskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erforderte besondere Maßnahmen. Bis dahin hatte Kuba den Verbündeten Zucker geliefert und im Gegenzug Erdöl, Industrieprodukte und Lebensmittel erhalten. Mit dem System brach die Agrarproduktion Kubas zusammen. Verschärfend kam das Handelsembargo der USA hinzu. Es gab keinen chemischen Dünger oder Pestizide. Was auf den Feldern reifte, konnte nicht in die Städte transportiert werden, weil der Treibstoff fehlte. Die urbane Landwirtschaft sollte die katastrophale Versorgungslage verbessern, organisiert in genossenschaftlichen und privatwirtschaftlichen Betrieben sowie in Gärten von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern. Städtische Gärten schossen aber auch wild aus dem Boden von Brachen oder Parkplätzen, indem sich Nutzer einfach geeignete Flächen nahmen. Heute soll es auf der Insel urbane Gärten unterschiedlicher Größen auf einer Gesamtfläche von 50.000 Hektar geben. 70 Prozent des in Havanna konsumierten Gemüses wächst in der Hauptstadt. Der städtische Anbau auf der ganzen Insel bringt eine Million Tonnen Gemüse pro Jahr. Über 500.000 Kubaner arbeiten in urbanen Gärten.
Biologischer Anbau in El Vivero
Der genossenschaftliche Betrieb von El Vivero zählt 170 Mitglieder. Fast neunzig Prozent von ihnen wohnen so wie Norma in den Plattenbauten Alamars. Nicht alle arbeiten hier täglich, aber viele. Schließlich bewirtschaften sie elf Hektar, auf denen knapp 250 verschiedene Pflanzen wachsen: von Kohl, Tomaten oder Bohnen bis hin zur seltenen Inka-Erdnuss. Am Verkaufsstand an der Straße herrscht reger Andrang. Täglich kaufen 1500 Menschen aus der Nachbarschaft hier ein, an den Wochenenden sind es doppelt so viele. Das freut die Genossenschaftler. Neben dem Grundgehalt erhalten sie eine Beteiligung am Gewinn, die nach der Dauer ihrer Mitgliedschaft variiert. Über die Höhe entscheidet die Vollversammlung, die auch über Neueinstellungen, Investitionen oder Anbaumethoden abstimmt. Trotzdem kommt wie überall auf Kuba niemand mit seinem Gehalt aus, selbst wenn es über den üblichen zwanzig Euro im Monat liegt, die ein Arzt,
Lehrer oder anderer Staatsdiener verdient. Umso wichtiger ist für die Mitglieder, dass sie sich im Organiponico kostenlos mit Salat, Obst und Gemüse versorgen können. Und die Kunden profitieren von den halbwegs moderaten Preisen am Verkaufsstand von El Vivero.
Allerdings können sich nicht alle Kubaner die Lebensmittel aus den urbanen Gärten leisten. Viele hängen von den monatlichen Lebensmittelgutscheinen ab, die sie nur in den staatlichen Geschäften einlösen können. Dort ist Frisches nach wie vor Mangelware. Trotz des großen landwirtschaftlichen Potentials der Insel – theoretisch könnte sich jede der 15 Provinzen autark ernähren – hängt das Land von Lebensmittelimporten ab. Schuld daran ist auch die immer noch starke Ausrichtung auf Zucker und Reis in großen Monokulturen. Urbane Landwirtschaft hat in Kuba jedoch zweifellos das Angebot an frischen Lebensmitteln sehr verbessert und das Bewusstsein für gesunde Ernährung – sowie einen umweltverträglichen Anbau – gestärkt. Die Waren am Verkaufsstand von El Vivero kommen nicht nur auf kürzestem Weg frisch aus dem Beet, sie sind auch biologisch produziert, ohne Pestizide oder chemischen Dünger, wie in fast allen urbanen Gärten auf Kuba. Zwischen den Beeten blühen gelbe Tagetes-Blumen, Sorghum, Mais, Oregano oder Sonnenblumen, um Insekten zu vertreiben oder anzuziehen und so die Schädlinge von den Nutzpflanzen fernzuhalten. Wirksam gegen Schädlingensind auch Jauche aus Tabakrispen oder den Zweigen des Neembaums. Für die Bodenfruchtbarkeit sorgt Wurmkompost. In langen Kompostbeeten fressen sich Milliarden roter Würmer durch Mist und Pflanzenabfälle. Jeder dieser Eisenia fetida verdaut am Tag die Hälfte seines Köpergewichtes. Hinten heraus kommt ein äußerst wirksamer Dünger, der mit Reisspelzen und reifem Kompost vermischt auf die Beete gebracht wird. Das ermöglicht dem El Vivero-Team einen Ernteertrag von zwanzig Kilogramm pro Quadratmeter, trotz überwiegend händischer Bearbeitung und einem hohen Anteil an Salat.
Die biologischen Methoden waren in der Periodo especial eine reine Notlösung, wie die Katastrophe der 1990er-Jahre genannt wird. Heute begreifen Produzenten und Verbraucher den Wert biologisch produzierter Lebensmittel. Einige städtische Bauern gehen in Sachen naturnaher Anbau sogar noch viel weiter als die Genossenschaftler von El Vivero. Zum Beispiel Rolando.
Permakultur in El Cohon
Schwungvoll kommt er mit einer roten Jawa auf das Gelände seines drei Hektar großen Gemüsegartens El Cohon gefahren. Der 54-Jährige stellt den knatternden Motor ab, setzt den Helm vom Kopf und streicht sich über das kurze graue Haar. „Hier lag überall Müll herum“, sagt er mit ausladender Geste. Vor fast zwanzig Jahren hat er mit seiner Frau Elizabeth das nur zwanzig Gehminuten von Alamar gelegene Gelände an der Küste im Stadtteil Cojima übernommen. Der Rumpf eines Kutters zeugt von der alten Nutzung als Schiffsfriedhof. Rolando und seine Frau haben den Müll weggeschafft und rund dreißig Zentimeter fruchtbaren Boden auf das Grundstück geschüttet. Vier Jahre lang haben sie den Boden mit Mulch und Wurmkompost aufgebaut. Auf den ersten Blick sieht es in El Cohon chaotisch aus: In einem rostigen Container lagern Gartengeräte. Ein Haufen Kokosnussschalen wartet auf den Verfall. Pflanzen verrotten auf einigen brach liegenden Beeten. Und auf den Wegen zwischen den Beeten liegt zerquetschtes Zuckerrohr. „So verhindern wir eine zu große Verdichtung des Bodens und machen uns die Füße nicht schmutzig. Außerdem verrottet das Zuckerrohr und bringt Nährstoffe in den Boden. “Das System Rolandos folgt den Prinzipien der Permakultur. Auf engem Raum gedeiht eine möglichst große Vielfalt, die Natur soll ihre ganze Palette ausspielen, die Böden werden schonend behandelt. Wächst das Richtige beieinander, sind Obst, Gemüse und Salat gegen Schädlinge und Krankheiten geschützt, gedeihen und schmecken gut. „Wir treten für eine gesunde und vielfältige Ernährung ein, viel zu viele Kubaner essen immer noch überwiegend Reis, Bohnen und Fleisch.“ Rolando zeigt auf Beete mit Petersilie, Oregano, Lollo Rosso, Endivien oder Blumenkohl. „Diese Produkte gibt es auf der Insel selten.“ Eigentlich ist Rolando ein Kind der Grünen Revolution. Bis zur Periodo especial leitete er ein großes landwirtschaftliches Staatsgut. Doch der bedingungslose Einsatz von Pestiziden und die Starre einer zentral gelenkten Agrarwirtschaft ließen ihn nach neuen Wegen suchen. „Lebensmittel verrotteten auf den Feldern oder wurden ungenutzt aus der Stadt zurück geschickt.“ Er bildete sich an staatlichen Instituten in Urban Gardening und Permakultur weiter. Im Rahmen der Förderung städtischer Gärten bewarb sich das Ehepaar bei der Gemeinde um die Nutzungsrechte für die Flächen El Cohons. Und bekam grünes Licht. Heute versorgen sie einen großen Teil der Nachbarschaft. „Wir ernten nur, was direkt gekauft wird, die Kunden können mit ihren Wünschen das Angebot beeinflussen oder gegen Naturalien mitarbeiten.“ Zum Beispiel der alte, demente Mann, der jeden Tag kommt und hilft. Auch mit vielen kleinen Privatgärtnern der Nachbarschaft steht Rolando im engen Kontakt, um Wissen und Saatgut auszutauschen. „Unsere Gesellschaft überaltert, den vielen Senioren tut es gut, sich mit ihren Gärten zu beschäftigen.“ So leistet urbane Landwirtschaft weit mehr als die Ernährung zu sichern und zu verbessern.
Eine Kräuterapotheke in Havanna
Selbst Kräuter und Heilpflanzen wachsen auf Kuba in urbanen Gärten, sogar mitten in den engen Gassen der Altstadt Havannas. Ungewöhnliches ist hier ein gewöhnlicher Anblick. Eingestürzte Häuser, Pferdekutschen, freilaufende Hühner, Reparaturbuden für Uhren und Handys auf dem Bürgersteig sowie die obligaten US-Straßenkreuzer aus den 1950er-Jahren – all das setzt den Besucher nach ein paar Tagen nicht mehr in Erstaunen. Anders der Dschungel, der aus einem Brachgrundstück in die schmale Straße quillt, begrenzt lediglich durch die tropenschimmeligen Mauern der hohen Nachbarhäuser. Oben auf dem grünen Chaos leuchtet eine feuerrote Kaskade aus Bougainvillea- und Hibiskusblüten.
„Hibiskus enthält viele Vitamine.“ Julio Bienvenido Cisnero Riego streicht sich über den buschigen Schnäuzer, in dem die ersten grauen Haare sprießen. Dann sprudelt es aus ihm heraus. Wogegen die Blüten des Malvengewächses nicht alles helfen: Bluthochdruck, Verstopfung, Kreislaufbeschwerden, Erkältung, Krämpfe, Ekzeme. Erst das Auftauchen eines Kunden unterbricht seinen Redeschwall.
Nicht immer hat sich Julio Bienvenido Cisnero Riego mit Pflanzen beschäftigt. Über 35 Jahre ist der 63-Jährige zur See gefahren. Dann begann er auf der handtuchschmalen Brache in seiner Nachbarschaft zu gärtnern, säte und päppelte immer mehr medizinische Pflanzen und las dazu alles, was er in die Finger bekommen konnte. Heute berät er fachkundig nicht nur die Alten seines Viertels. „Fast zweitausend Menschen habe ich schon weitergeholfen, sogar Besucher aus dem Ausland kommen.“ Riego legt ein Logbuch mit den Eintragungen seiner Kunden auf den Blechtresen und blättert durch die Seiten.
Jeden Morgen öffnet er seinen kleinen Stand am Eingang des Gartens. Hinter dem Tresen stehen Fläschchen mit Tinkturen, Dosen mit getrockneten Kräutern und ein kleines Bild des Papstes auf klapperigen Regalen. Den ganzen Vormittag ist Riego mit der Beratung der Klienten und dem Verkauf der Kräuter beschäftigt, darunter auch viele, die für die Zeremonien der afrokubanischen Religion Santeria benutzt werden. Seit die Naturreligion auf Kuba wieder toleriert wird, hat sie einen großen Aufschwung erlebt. Ab Mittag widmet sich der Ex-Seemann dem Garten. Über einhundert verschiedene Kräuter und Pflanzen wachsen in den mit alten Dachziegeln begrenzten Beeten, in rostigen Blecheimern, verbeulten Schubkarren oder ausgedienten Badewannen. Alle wirken gegen vieles. „Sehen Sie den Moringabaum dort?“ Ein Moped knattert vorbei. Oben im Nachbarhaus hängt eine Frau Wäsche auf die Leinen vor ihrem Fenster. Nur kurz unterbricht Julio Bienvenido Cisnero Riego und winkt. „Aus dem kann man allerhand Nützliches herstellen.“ Mit dem Pulver der Samen lässt sich Wasser reinigen, geröstet sind sie schmack- und nahrhaft wie Erdnüsse oder Kichererbsen. „Ach ja, viele nutzen sie auch als Aphrodisiakum.“ Julio Bienvenido Cisnero Riego grinst. Er hat noch viel vor, will expandieren, mit Spiegeln mehr Sonnenlicht in den Garten bringen, das Regenwasser sowie die Dachflächen und Häuserwände als Anbauflächen nutzen. Sollte er auch nur einen Teil seiner Pläne umsetzen, wird der Anblick seines Gartens noch ungewöhnlicher sein. Vorausgesetzt die Öffnung Kubas beschert Havanna nicht einen Immobilienboom, der alle diese Gärten hinwegfegt wie ein Tropensturm. Das wäre wieder eine Katastrophe.