Ein kühler Morgen im Juli. Nur langsam erwärmt die Sonne die Luft. Tau liegt auf den Beeten und den Planen der Gewächshäuser, in denen zehn verschiedene Sorten Tomaten sowie Paprika und Kräuter wachsen. Olivia Willerer bückt sich, um die orangen Blüten von der Kapuzinerkresse zu zupfen, die überall an den Rändern des großen Gemüsegartens wuchert. „Wir legen sie als kleine Beigabe zu unseren Salatmischungen.“ Hinter ihr schneiden Helfer mit Scheren Salatblätter aus den Beeten: Rucola, Feldsalat, Babyspinat, Brauner Senf, Sauerampfer, den japanischen Salatkohl Mizuna und andere asiatische Pflücksalate.
„Die Salatmischung ist der Renner auf dem Markt“, sagt Olivia Willerer und greift nach den nächsten Kresseblüten. Mit einem Tuch hat sie ihre neun Monate alte Tochter auf den Rücken gebunden. Anders geht es nicht. Sie und ihr Mann Greg sind vollends mit ihrer Landwirtschaft beschäftigt. Heute ist Freitag, da muss genug geerntet werden für den Markt am Samstag. „Wir arbeiten hart, führen aber ein selbstbestimmtes Leben.“ Olivia Willerer richtet sich auf und wischt mit dem Ärmel über ihre schweißnasse Stirn.
Bienen summen. Grillen zirpen. Ein Hahn kräht und Hund Watson bellt. Eine ländliche Idylle? Weit gefehlt. Wir sind mitten in Detroit, Motor City Detroit, dort wo Henry Ford einst das Fließband erfand. Über den nahen, achtspurigen Fisher Freeway rauscht der Verkehr in Richtung Downtown. Und hinter den Nachbargrundstücken ohne Häuser, auf denen Wildblumen, Weißklee und Schafgarbe wuchern und nur noch die rissigen Betoneinfahrten von ihren einstigen Bewohnern erzählen, ist die Michigan Central Station auszumachen. Als das zwanzig Stockwerke hohe, neoklassizistische Monument zwischen 1910 und 1913 errichtet wurde, war es das höchste Bahnhofsgebäude der Welt. Selbst Visionäre wie der Architekt Le Corbusier kamen und staunten, vor allem aber Tausende Migranten aus dem ländlichen Süden der USA sowie aus Europa oder Südamerika. Die Autoindustrie bot gut bezahlte Jobs. Die Stadtplaner bauten breite Straßen und großzügig angelegte Siedlungen für zwei Millionen Menschen. Heute leben hier keine 700.000 mehr. In einigen Vierteln ist jeder zweite ohne Job. Das Durchschnittseinkommen liegt weit unter der Armutsgrenze.
Der lange Niedergang setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein und fand seinen Höhepunkt in der Bankrotterklärung der Stadtverwaltung 2013. Abgesehen von einigen wenigen Hauptverkehrsadern wie dem Fisher Freeway, sind Detroits breite Straßen heute leer. Manche Quartiere sind fast unbewohnt, viele der leeren Häuser ausgebrannt, die Grundstücke von Rankpflanzen und Schilf überwuchert.
Der Niedergang eröffnet Freiräume: Künstler, Musiker, Studenten oder junge Unternehmer finden in Detroit ihren Abenteuerspielplatz. Sie kaufen Häuser und Grundstücke für wenige hundert Dollar, mieten preiswerte Büros oder ziehen einfach so ein. Wo lässt sich besser ausprobieren, wie die Stadt der Zukunft aussehen könnte? Schließlich sind schrumpfende Städte ein Problem vieler Industrienationen.
Im Zukunftslabor von heute spielen Gemüsegärten und Farmen wie die der Willerers eine zentrale Rolle. Warum aus Teilen der Stadt nicht wieder Land machen? Gärten und Farmen sind in der ehemaligen Motorcity häufiger zu sehen als funktionierende Autosalons, Motels, Shopping Malls oder Tankstellen. Auf fast zwitausend wird ihre Zahl geschätzt. Nachbarschaften, kirchliche Gemeinden, Sozialhilfeempfänger, Studenten oder Suppenküchen haben sie auf verlassenen Hausgrundstücken, Industriebrachen oder Hinterhöfen angelegt. Und damit viele Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Gärten beleben ausgestorbene Straßen, sie geben Menschen Beschäftigung, versorgen sie in einer Stadt ohne Gemüseläden und Supermärkte mit frischen Lebensmitteln, bieten Naherholung und Kontakt zur Natur und bringen die Bewohner der Quartiere wieder miteinander in Kontakt.
„Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und kann einfach nicht weggehen“, sagt Quincy, einer der Helfer bei Olivia und Greg Willerer. Ein bis zwei Mal in der Woche arbeitet der Erwerbslose auf der Farm und lässt sich dafür in Lebensmitteln auszahlen. „Meine Frau liebt das frische Basilikum, das ich immer mitbringe. Außerdem lerne ich hier viel für meinen eigenen Garten, den ich hinter unserem Haus in East Detroit anlegen will.“ East Detroit ist eine der verlassensten Ecken der Stadt. Nachts wird es hier stockdunkel. Licht spenden nur die bunten Neonreklamen der rund um die Uhr geöffneten Liquor Stores. Neben Bier und Schnaps verkaufen sie Chips, Waschpulver oder Fertigpizzen. Wie die unzähligen Freikirchen, die in alten Lagerhallen oder Ladengeschäften residieren, scheinen sie die letzten funktionierenden Geschäfte der Stadt zu sein.
Auch in Corktown sieht es nicht viel besser aus. Wann die verrosteten Straßenlaternen in ihrem Viertel das letzte Mal funktionierten, wissen Olivia und Greg Willerer nicht mehr. „Die Stadt kümmert sich einen Dreck darum.“ Greg Willerers Augen funkeln. „Wir nehmen hier alles selbst in die Hand.“ Willerer trägt einen grauen Dreitagebart und eine blaue Latzhose, an der noch frische Erde klebt. Er ist in einem Vorort von Detroit aufgewachsen. 2001 zog er in die Stadt und kaufte wenig später ein Haus von einem alten Ehepaar, das wegzog - wie so viele andere. Rund um das 1905 gebaute Holzhaus mit der abgeblätterten Farbe hat Willerer einige brach liegende Grundstücke entmüllt und in Anbauflächen verwandelt. „Ich habe einfach die Nachbarn gefragt und losgelegt, im Gegenzug versorge ich sie mit Kompost oder Gemüse.“
Vor fünf Jahren hat Willerer seinen Job als Lehrer an den Nagel gehängt. Seitdem lebt die kleine Familie von ihrer Stadtfarm. Fast neunzig solcher Marketgardener gibt es mittlerweile in Detroit. Aber selbst ein so erfolgreicher wie Greg Willerer - als Brother Nature stadtbekannt - muss im Winter zusätzlich Geld mit Schneeräumen verdienen. Aber es geht Willerer und den vielen anderen um mehr als den Lebensunterhalt: „Wir müssen uns von der industriellen Nahrungsmittelproduktion befreien, von dem staatlich geförderten Anbau von Monokulturen und dem ungesunden Essen.“
Nach einer Studie der Michigan State University könnte Detroit mit Stadtfarmen, Nachbarschaftsgärten und Gewächshäusern drei Viertel ihres Gemüses und vierzig Prozent ihres Obstes selbst produzieren. Die Forscher machten mithilfe von Luftaufnahmen und städtischen Grundstücksdaten über 44.000 freie Parzellen mit einer Fläche von fast zweitausend Hektar aus. Ernährt sich Detroit sich bald aus sich selbst heraus?
Der Weg dorthin kann steinig sein. „Wir haben riesige Mengen Kompost gebraucht, um die Böden fruchtbar zu machen“, erklärt Greg Willerer. Den Kompost stellt der Stadtfarmer selbst her, unter anderem mit Dung aus dem Detroiter Zoo. Chemischen Dünger oder Pflanzenschutzmittel lehnt er ab. Regelmäßig muss Greg Willerer zudem die Schadstoffbelastung der Böden überprüfen lassen, die sich in den Wohnquartieren Detroits aber in Grenzen hält. „Unser Gemüse hat Bioqualität, eine Zertifizierung ist uns allerdings zu aufwändig.“
Dafür ist der Weg zu den Verbrauchern kurz. Zum Eastern Market im Stadtzentrum, einem der größten Bauernmärkte in den USA, braucht Willerer nur wenigen Minuten in seinem verbeulten Pick-Up. Zudem beliefert er einige Restaurants in der Stadt, die vorzugsweise mit lokalen Produkten kochen. Eines dieser Restaurants ist The Brooklyn Street Local.
Dewerie Gifford hat es vor zwei Jahren mit ihrem Mann in einem leer stehenden Diner eröffnet. Der Flachbau steht zwischen einer Industriebrache und frisch renovierten Lofts unweit von Downtown. Dewerie Gifford stammt aus Ottawa in Kanada. „In Detroit sahen wir noch Möglichkeiten, hier ist nicht alles besetzt“, sagt die Köchin während sie den Salat von Willerer auf einem Teller mit Tomatenscheiben von einer anderen Stadtfarm anrichtet. Knapp ein Fünftel ihrer Zutaten ist in Detroit gewachsen. „Die sind zwar etwas teuerer als die vom Großhandel, dafür aber sehr frisch.“ Zudem seien ihre Kunden bereit, etwas mehr zu bezahlen, um lokale Wirtschaftskreisläufe zu fördern. „Die Leute wollen wieder wissen, woher ihr Essen kommt.“ Überwiegend junge Menschen sitzen in ihrem Restaurant, sie trinken Cafélatte aus großen Porzellanbechern, vor sich aufgeklappte Laptops auf den Tischen. Unter jungen Mittelklassekids gilt Detroit als Berlin der Vereinigten Staaten, als „The place to be“.
Urban Gardening in Detroit ist aber mehr als ein Lifestyle zugezogener Hipster. Die Earth Works Farm eines Kapuzinerklosters in East Detroit zum Beispiel baut in Gewächshäusern und Beeten mithilfe freiwilliger Helfer Obst und Gemüse für die hauseigene Suppenküche an. Jeden Tag gibt die Küche zweitausend Essen für Obdachlose, Working Poors oder Arbeitslose aus. „Vierzig Prozent der Zutaten für unsere Mahlzeiten stammen aus eigener Produktion“, erklärt Shane Bernado von der Suppenküche.
Die gemeinnützige Organisation Central Detroit Christian (CDC) produziert Lebensmittel in der Stadt, um durch den Verkauf ihre sozialen Programme zu finanzieren. Es geht unter anderem um gesunde Ernährung und Alphabetisierung. Neben Gärten und Gewächshäusern betreibt CDC einen Obst- und Gemüseladen und seit neuestem eine Fischzucht in einem ehemaligen Liquor Store. Die Community Gardens der Organisation sind jedoch gescheitert. „Die Leute haben sich zwar Gemüse geholt, die Gärten aber nicht wie geplant gepflegt“, erklärt Anthony Hatinger von CDC. Die Dekaden des Niedergangs und der Abhängigkeit von Sozialleistungen haben vielen in der Nachbarschaft jegliche Initiative und Selbstverantwortung genommen. Die ältere Generation der Afroamerikaner ist zudem nach Detroit gekommen, um dem Leben im ländlichen Süden zu entfliehen, mit schlecht bezahlter Feldarbeit, Rassentrennung und den immer noch lebendigen Erinnerungen an die Sklaverei. „Sie verbinden mit Feldarbeit nichts Gutes.“
Anders läuft es im Cadillac Garden, im Südwesten der Stadt, am Rande einer hispanischen Nachbarschaft. Der Cadillac Garden befindet sich auf einem ehemaligen Parkplatz für General-Motors-Mitarbeiter, eingezäunt von hohem Maschendraht. In großen Boxen, einst für den Transport von Autoteilen gebaut, wachsen heute Bohnen, Chilis, Rosenkohl und Tomaten. „Wir sind etwa vierzig Nachbarn, die den Garten pflegen; das Gelände und die Boxen hat uns ein Autozulieferer zur Verfügung gestellt, der noch nicht pleite gegangen ist“, sagt Rosa Gutierrez und stopft ein Bündel Spinatblätter in ihren Jutesack. Viele ihrer Mitgärtner sind wie sie ältere Hispanics, die mit einer Rente von wenigen hundert Dollar auskommen müssen. Kostenlose Lebensmittel, noch dazu frisch geerntet, bereichern ihren Speiseplan und entlasten die Haushaltskasse. „Und die gemeinsame Arbeit macht uns Spaß.“ Dann klingelt Rosa Gutierrez´ Handy. Ihr Mann will wissen, wann es Essen gibt. Sie rafft ihre Sachen zusammen und schließt beim Gehen das Tor ab. „Damit niemand unsere Pflanzen kaputt macht.“
Samstag auf dem Eastern Market. Hektisch bauen Olivia und Greg Willerer ihren Stand auf. Greg ist glatt rasiert. „Das ist der wichtigste Tag für unser Geschäft“, sagt er und zwinkert aus seinen dunklen Augen. Zwischen all den Ständen von Landwirten aus dem gesamten Bundesstaat Michigan gibt es eine Abteilung „Grown in Detroit“. Schnell bildet sich vor dem Stand der Willerers eine Schlange. Die großen Tüten mit Salatmischungen für jeweils fünf Dollar finden reißenden Absatz. Mittags fährt Greg zurück zur Farm, um Nachschub zu ernten. Eigentlich läuft es gut. Aber die Existenz der Willerers hängt am seidenen Faden. Für ihr bebautes Land mitten in der Stadt haben sie weder einen Eigentumstitel, eine Genehmigung oder einen Pachtvertrag. Sie haben sich deshalb eine Parzelle auf dem Land gekauft. Andere Marketfarmer wirtschaften mit Genehmigung der Stadtverwaltung auf gekauften Grundstücken in der Stadt. Die gab es bis vor kurzem noch für eine Handvoll Dollars. Seit neuestem aber investieren Anleger aus Europa und Asien in die preiswerten Immobilien. Auch große Agrarunternehmen prüfen, ob sie Land in der Stadt nutzen wollen. Zumindest in Quartieren nahe Downtown sind die Grundstückspreise schon gestiegen. Das beunruhigt nicht nur die sozial orientierten Stadtfarmer.
Findet das Experiment „Gemüse statt Cadillac“ ein Ende, bevor es der gefallenen Industriemetropole auf die Beine helfen kann? Das wäre schade. Nicht nur für Detroit.