Die häufigste chronische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist Übergewicht. Nach Kinder- und Jugendsurvey sind 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig und rund 800.000 adipös. Die Zahlen sind zwar in den letzten Jahren stabil geblieben, aber es zeichnet sich ein Trend zu immer höherem Gewicht ab.
Das komplexe Krankheitsbild verlangt nach umfassenden Konzepten. Eine Kombination aus Verhaltenstraining und Lebensstiländerung kommt nur bei einem Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen an und reicht bei weitem nicht aus. Weitere Therapie- und Settingansätze sind gefragt, um neben einem individuellen Ansatz die gesamte Gesundheitsversorgung der Betroffenen und ihrer Eltern, vor allem das psychosoziale Umfeld, in das Krankheitsmanagement mit einzubeziehen.
Den Umgang mit Adipositas selbst meistern lernen
Übergewicht und Adipositas lassen sich nur teilweise durch Verhaltens- und Lebensstiländerungen langfristig beeinflussen. Dadurch wird klar: Adipositas kann nicht geheilt, sondern in ihren Auswirkungen nur gelindert werden. Das wiederum bedeutet, dass Kinder und Jugendliche in der Therapie lernen sollten, mit Adipositas ihr Leben lang umzugehen. Dabei gilt es, die Betroffenen sowie deren Eltern durch gezielte Schulungsmaßnahmen zu unterstützen.
Mehr Lebensqualität und Selbstwertgefühl
Im Fokus steht nicht nur die Gewichtsabnahme, um Folgeerkrankungen zu vermeiden und die körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern. Vielmehr geht es auch um eine aktivere Teilhabe der gesamten Familie am sozialen Leben. Hierfür ist es nötig, dass sich die Heranwachsenden physisch, psychisch und sozial stabil entwickeln.
Denn Kinder und Jugendlichen mit Adipositas verdienen ebenso wie ihre normalgewichtigen Altersgenossen eine gute Lebensqualität und ein gutes Selbstwertgefühl. Dabei hilft ihnen ein ausgewogener Lebensstil hinsichtlich Ess-, Ernährungs-, Bewegungs-, Medien- und Schlafverhalten.
Maßgeschneiderte Therapie
Das typische Kind oder den typischen Jugendlichen mit Adipositas gibt es genauso wenig, wie es die typischen Eltern dieser Kinder gibt. Umso wichtiger ist die Aufgabe der Trainer*innen, sehr genau hinzuschauen, welches Kind oder welcher Jugendliche in seinem Kontext zu welchem Zeitpunkt welche Art von Therapie braucht.
Was ist für Jugendliche wichtig?
Beispielsweise geht es bei Jugendlichen im Unterschied zu Kindern vor allem um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Sich mit seiner Geschlechtsrolle auseinandersetzen, sich von den Eltern lösen, eigene Werte und Lebensziele entwickeln sind typische Herausforderungen in dem Alter.
In dieser Phase sind Jugendliche verunsichert und orientieren sich gern an Gleichaltrigen, sogenannten Peers. Durch die Peergruppe kann aber wiederum Druck entstehen, sich anpassen zu müssen und Angst, ausgegrenzt zu werden – gerade bei Übergewichtigen. Solche altersspezifischen Merkmale gilt es für Trainer*innen im Blick zu haben und in der Behandlung zu bedenken.
Welche Rolle spielen Eltern, Kultur und Motivation?
Aber auch andere Rahmenbedingungen sind relevant: Welche Rolle spielen die Eltern? Wie ist die Situation der Erziehungsverantwortlichen? Woher stammt die Familie, gibt es möglicherweise Sprachbarrieren? Wie gestaltet sich die Esskultur oder wie sieht das Bewegungsverhalten in der Familie aus?
Aus medizinischer Sicht ist interessant: Liegt der Adipositas eine andere Erkrankung zugrunde oder hat der oder die Betroffene möglicherweise eine Behinderung?
Besonders relevant ist die Frage nach der Motivation. Nur, weil jemand an einer Maßnahme teilnimmt, muss diese nicht automatisch erfolgreich sein. Der innere Antrieb ist eine entscheidende Voraussetzung hierfür.
Behandlungsketten flexibel gestalten
Für die Behandlung ist es hilfreich, verschiedene Maßnahmen und Schwerpunkte miteinander zu vernetzen. So entsteht quasi eine ganze Behandlungskette, deren einzelne Glieder der Trainer oder die Trainerin in der Reihenfolge und Häufigkeit variabel einsetzen kann.
Ambulante und stationäre Schulungsmaßnahmen können sich dabei als Einzel- oder Gruppenschulungen abwechseln. Bei Bedarf kommt eine psychotherapeutische Unterstützung dazu. Entscheidend ist ein gutes Fall-Management, mit dem in den meisten Fällen der Arzt oder die Ärztin alle Maßnahmen koordiniert und die ganze Familie langfristig betreut.
Ein Schulungskonzept – von Trainer*innen für Trainer*innen
Das Trainermanual
Das Trainermanual Adipositas-Schulung für Kinder und Jugendliche ist eine Medienreihe mit insgesamt 5 Broschüren – 1 zu Grundlagen und 4 weitere zu den Schulungsbereichen
- Ernährung
- Bewegung
- Psychosoziales
- Medizin
Welche Maßnahmen und Formen der Adipositastherapie sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Behandlung in der Praxis erfolgreich waren, zeigt das Trainermanual Adipositas-Schulung für Kinder und Jugendliche des Bundeszentrum für Ernährung (BZfE).
Das interdisziplinäre Schulungskonzept basiert auf den Leitlinien zur Therapie der Adipositas im Kindes und Jugendalter. Es liefert anhand der Erfahrungen von Adipositastrainern*innen praxisnahe Anleitungen für Trainer*innen, wie sie die Betroffenen in ihrem lebenslangen Umgang mit der Krankheit unterstützen können. Vorschläge für komplette Schulungseinheiten sind ebenso enthalten wie ein großer Fundus einzelner Übungen (3 Beispiele zum Download weiter unten), Material für die begleitende Elternschulung sowie für das Qualitätsmanagement und die Evaluation der Behandlungsmaßnahmen.
Erstellt wurde das Trainermanual von der Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche (KgAS). Der Verein hat das Ziel, die Adipositas-Schulung in Deutschland zu fördern und zu verbreiten. www.adipositas-schulung.de
Die Schulungsbereiche gliedern sich in Themen (z. B. Essverhalten), denen unterschiedliche Bausteine (z. B. Genusstraining) zugeordnet sind. Die Lernziele und Inhalte der Bausteine lassen sich in der Praxis mit diversen Übungen (z. B. Buffetsituation – wer sucht, der findet!) samt Materialien umgesetzen.
Das Trainermanual richtet sich an Fachkräfte aus den Bereichen Ernährung, Sport und Bewegung, Medizin sowie Psychologie und Pädagogik, die professionell mit Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas sowie deren Erziehungsberechtigten arbeiten. Ebenso werden auch Beschäftigte von Reha-Einrichtungen, therapeutischen Wohngruppen oder neuen Berufsfeldern der Prävention und Gesundheitsförderung angesprochen.
3 Übungen aus dem Bereich Ernährung zum Download
Domino-Quiz
Übung zur Ernährungslehre mit den Lernzielen z. B. die Vielfalt günstiger Lebensmittel zu erfahren, Lebensmittel in die Ernährungspyramide einordnen zu können
Übung Domino-Quiz (kostenloser Download PDF, 527 KB)
Esszirkel
Übung zu Portionsgrößen mit u. a. dem Lernziele wie erkennen, welche Portionsgrößen dem eigenen Alter entsprechen
Übung Esszirkel (kostenloser Download, PDF, 452 KB)
Einladungen – heute ist mal alles anders
Übung zum Thema Essverhaltenstraining mit den Lernzielen z. B. Speisen flexibel auszuwählen oder alternative Speisen auszuprobieren
Übung Einladungen (kostenloser Download, PDF, 369 KB)
Das Konzept der Gruppenschulung
Das Trainermanual beinhaltet Konzepte für Gruppenschulungen mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern. Einzelne Elemente können Fachkräfte auch für Einzelschulungen, Kurzinterventionen und Beratungen nutzen. Die individuell zu definierenden Lernziele wollen die Kompetenz aus unterschiedlichen Bereichen, zum Beispiel dem kognitiven, sozio-emotionalen und behavioralen, fördern.
Welche Methode, welche Didaktik und welche Inhalte in der Schulung zum Einsatz kommen, hängt wesentlich von den Merkmalen der Teilnehmenden ab. So können Jüngere noch nicht gut lesen und abstrakte Zusammenhänge erfassen. Daher empfiehlt es sich, Gruppen mit Personen ähnlichen Alters zu bilden und ab 13 Jahren eventuell die Gruppen in Jungen und Mädchen aufzuteilen. Das vorliegende Konzept ist auf eine Gruppe von 6-12 Teilnehmer*innen ausgerichtet, optimal sind etwa 8 Personen.
Auch räumliche und materielle Voraussetzungen spielen eine Rolle ebenso wie das Setting. Im ambulanten Setting können die Eltern und das soziale Umfeld intensiver in die Schulung miteinbezogen und neu gelernte Verhaltensweisen im Alltag am Wohnort erprobt werden. Im stationären Setting ist eine engere Betreuung möglich, bei der Trainer*Innen die Inhalte zeitnah und sehr individuell anpassen können.
Eine Schulungseinheit dauert 45 Minuten und kann wie folgt aufgebaut sein:
- Einstiegsritual (3-10 Min.): Das stärkt die Gruppendynamik und stimmt die Teilnehmer auf den Beginn ein.
- Eröffnung des Themas (5-10 Min.): Der Trainer erklärt den Schulungsinhalt und kann den Wissensstand und Wünsche erfragen. Dabei wird der persönliche emotionale Bezug der Teilnehmer zum Thema hergestellt, um zur Mitarbeit zu motivieren.
- Arbeit am Thema mit Übungen (mind. 20 Min.): Die Inhalte setzen die Teilnehmer mit Übungen mit wenigen Personen oder Kleingruppen um – angepasst an die jeweilige Situation.
- Zusammenfassen mit Transfer in den Alltag (5 Min.): Das Zusammenfassen durch den Trainer oder die Teilnehmer festigt und verankert die Inhalte. Dabei wird auch der Transfer in den Alltag vorbereitet.
- Ablösen und Ausstiegsritual (5 Min.): Trainer und Teilnehmer reflektieren die Stunde hinsichtlich ihrer persönlichen Befindlichkeit.
Nachsorge für eine nachhaltige Therapie
Häufig gelingt es Kindern und Jugendlichen nur schwer, die erlernten Kompetenzen und eine beginnende Lebensstiländerung in den Alltag zu übertragen und dauerhaft stabil beizubehalten. Daher ist für einen nachhaltigen Erfolg eine gut vorbereitete Nachsorge erforderlich. Sie findet am besten direkt im Anschluss an die Behandlungsmaßnahme statt.
Vor allem eine ambulante Betreuung am Heimatort hat sich bei der Nachsorge als wirkungsvoll erwiesen. Aber auch eine stationäre Reha ist möglich, für die die Eltern entsprechend motiviert und ebenfalls geschult werden sollten. So können sie ihr Kind nach der Reha weiter unterstützen.
Die Indikation zur Nachsorge ist in der Reha-Einrichtung zu stellen. Wurde das Kind oder der Jugendliche zuvor wegen Adipositas behandelt, bietet es sich an, dass die Nachsorge in derselben Einrichtung stattfindet. Bei einer stationären Behandlung fern des Heimatortes ist die Vermittlung an entsprechende Therapeuten vor Ort sinnvoll.
Zu Beginn der Nachsorge ist neben Angaben zur Person eine Bestandsaufnahme der Behandlung notwendig. In die anschließende Zielplanung der Nachsorge fließen die bisherigen Erfahrungen ebenso ein wie die familiären Umstände und andere Faktoren. Teil- und Etappenziele werden erarbeitet und gemeinsam mit der Familie und dem Therapeuten bewertet. Im Schulungsbereich Ernährung geht es vor allem darum, die neu erlernte Ernährungsweise beizubehalten, zum Beispiel das Auswählen von Essen und Getränken im häuslichen Umfeld oder geregelte Mahlzeitenstrukturen.