- Sowohl in Deutschland als auch in Brasilien setzen sich Initiativen für Ernährungssouveränität ein.
- Der Film Foodrevolution stellt in zwei Teilen Initiativen in Frankfurt und in Rio de Janeiro vor, die sich auf den Weg zu einer „Ernährungsrevolution von unten“ gemacht haben.
- Die Beispiele zeigen, dass Veränderung möglich ist, wenn sich Landwirt*innen und Konsument*innen zusammentun und sich gemeinsam für eine bäuerliche, regionale und naturnahe Lebensmittelerzeugung einsetzen.
Zwei neue Filme des BZfE in Kooperation mit MISEREOR, dem katholischen Hilfswerk für Entwicklungszusammenarbeit, stellen Initiativen und Netzwerke vor, die sich für eine „Ernährungsrevolution von unten“ einsetzen – in Rio de Janeiro genauso wie in Frankfurt am Main. Denn die Menschen im globalen Süden und im globalen Norden stehen vor denselben Herausforderungen: Gesundes Essen aus einer intakten Natur ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Wir verlieren fruchtbares Land, kostbare Trinkwasserreserven, überlasten das Klima und gefährden die biologische Vielfalt. Besonders im städtischen Umland gehen fruchtbare Ackerböden verloren.
Die beiden Videos zeigen in zweimal 17 Filmminuten anhand von 14 Beispielen, dass Veränderung möglich ist, wenn sich Landwirt*innen und Konsument*innen zusammentun und sich gemeinsam für eine bäuerliche, regionale und naturnahe Lebensmittelerzeugung einsetzen. „Lebensmittel aus einer nachhaltigen Erzeugung müssen zur Normalität werden, die sich jeder leisten kann“, sagt Gesa Maschkowski vom Bundeszentrum für Ernährung. „Und diese Verbindung mit der Natur, mit guten Lebensmitteln und den Menschen, die sie erzeugen, kann eine große Bereicherung für alle sein“.
Foodrevolution – Stadt trifft Land, Teil 1: Frankfurt am Main
In Deutschland machen sich immer mehr Menschen auf den Weg, um den Bezug zwischen Landwirt*innen und Konsument*innen wiederherzustellen. So zum Beispiel Joerg Weber vom Ernährungsrat Frankfurt. Oder die Landwirte Christoph Graul und Silas Müller. Sie versorgen mit der Genossenschaft KOOPERATIVE eG derzeit 500 Haushalte in Frankfurt mit lokal produzierten Lebensmitteln. “Es ist fünf vor 12, um wirklich etwas zu verändern”, sagt Christoph Graul. Gemeinsam mit seinem Partner Silas Müller baut er an einem Netzwerk von Betrieben, das von Menschen in der Stadt getragen wird.
Rosemarie Heilig, Stadträtin und Dezernentin für Umwelt und Frauen der Stadt Frankfurt ist der Meinung, dass es überall gute Lebensmittel aus biologischer Landwirtschaft geben müsse – in Schulen, in Kitas, in Krankenhauskantinen. Die Aufgabe der Stadt sei es, die Vernetzung zwischen den Akteuren zu fördern, sagt sie. Das gelinge aber nur, wenn es an der Basis auch Initiativen gäbe, die sich engagierten, und Landwirt*innen, die neue Wege gingen. Das Ziel muss sein, dass Landwirte wieder von ihrer Arbeit leben können und Freude daran haben, meint Margarete Hinterlang, Landwirtin und Umweltpädagogin vom Dottenfelder Hof in der Wetterau. Die Chancen stehen gut. Denn die Landesregierung hat beschlossen, dass ganz Hessen Ökomodellregion wird.
Teil 1 des Films "Foodrevolution – Stadt trifft Land" stellt neben den oben genannten noch weitere Protagonisten aus dem Netzwerk des Ernährungsrats Frankfurt vor, darunter Jenny Fuhrmann vom Unverpacktladen gramm.genau und Thomas Wolf, Biolandbauer und Inhaber des Bio-Lieferservices "Querbeet", der u. a. Mitgründer eines Erzeugermarktes ist. Außerdem die Familie Dieffenbach, die ihren Hof auf Bio umgestellt und einen Kartoffelverarbeitungsraum eingerichtet hat, um einen Großteil ihrer Erzeugnisse direkt an Kantinen zu vermarkten, aber auch den Großhandel beliefern zu können. "Wir Landwirte müssen uns immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um neben den Billigdiscountern bestehen zu können.", sagt Jens Dieffenbach. "Die Ökomodellregion stellt Verbindungen zum Bio-Großhandel her, aber auch Vernetzung untereinander."
Foodrevolution – Stadt trifft Land, Teil 2: Rio de Janeiro
Laut Schätzungen der Weltbank werden allein in Brasilien Ende 2020 etwa 14,7 Millionen Menschen von extremer Armut betroffen sein. Das Recht auf eine gute Ernährung ist zu einem Privileg für wenige Menschen geworden. Die Initiativen, von denen Teil 2 des Films "Foodrevolution – Stadt trifft Land" berichtet, erobern sich dieses Recht zurück. Im Video werden Initiativen des Netzwerks für urbane Landwirtschaft vorgestellt, die Partner der Organisation AS-PTA (Agricultura Familiar e Agroecologia, übersetzt Familiäre Landwirtschaft und Agrarökologie) sind. AS-PTA berät landwirtschaftliche Familienbetriebe und hat das Netzwerk maßgeblich mit aufgebaut. Sie gehört zum Ernährungsrat des Bundesstaates Rio de Janeiro. In Brasilien wurden Ernährungsräte per Gesetz auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene eingeführt. Sie bestehen zu zwei Dritteln aus Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und zu einem Drittel aus staatlichen bzw. kommunalen Akteuren. Ihre Aufgabe ist es, ein Auge auf die Verteilung öffentlicher Gelder zu haben und Vorschläge in die Politik einzubringen. Viele Menschen bekamen so ein neues Bewusstsein für ihre Rechte und Stärken und konnten kreative Lösungen sowohl erarbeiten als auch umsetzen.
„Eine Ernährungsrevolution muss viele Menschen einbinden.“, sagt zum Beispiel Márcio Mattos de Mendonça. Er ist einer der Protagonisten und Koordinator für urbane Landwirtschaft bei der MISEREOR-Partnerorganisation AS-PTA. Der Verein unterstützt u. a. kleinbäuerliche Familienbetriebe und hilft ihnen bei der Vermarktung ihrer Produkte. „Eine Ernährungsrevolution bedeutet, dass wir neue Beziehungen zueinander aufbauen – wirtschaftliche, soziale, politische.“, so Márcio Mattos de Mendonça.
Außerdem lernen Sie im Video Ana Santos kennen. Sie ist Stadtbäuerin, Sozialarbeiterin, Köchin und gute Seele der Gemeinschaftsgärten, die sie berät und unterstützt. Ana Santos gibt Kochkurse, beispielsweise rund um die Jackfrucht. So ein Baum kann 30 bis 50 Familien im Monat ernähren. Ökolandwirt Francisco Caldeiro de Sousa baut u. a. die Jackfrucht in einem Naturschutzgebiet im Westen von Rio an und sagt: "Ich bin durch das Modell der agrarökologischen Landwirtschaft zu einem besseren Menschen geworden."
Marcelle Felippe, Koordinatorin des Waldgartens Verdejar, einem Zentrum für Umweltbildung und nachhaltiges Handeln im Stadtviertel Complexo de Alemão, schildert den Mehrwert des urbanen Gartenprojektes folgendermaßen: "Die städtische Landwirtschaft gibt den Menschen in der Favela Macht zurück." Und: "In einem solchen Garten wie diesem, in diesem grauen Stadtumfeld, "echtes Essen" zu finden, ist ein Privileg. Ein Privileg, das wir erobern."
Von Arnaldo Tabosa, dem Koordinator eines Gemeinschaftsgartens, erfahren Sie außerdem, dass in einem reichen Land wie Brasilien eigentlich niemand hungern müsste. Und der Referendar Pedro Biz Eschiletti legt im Rahmen seines Studiums Schulgärten in Favelas an. "Bildung ist die Grundlage für alles, sie beginnt bei den Kindern.", sagt er.
Auf Empfehlung der Ernährungsräte wurden in Brasilien zahlreiche politische Maßnahmen umgesetzt. Zum Beispiel ein kostenfreies Schulessen, das – laut Gesetz – zu 30 Prozent aus familiärer Landwirtschaft stammen muss. Oder ein staatliches Programm, das Produkte von lokalen Erzeugern aufkauft und an Schulen oder Krankenhäuser verteilt. Durch die politischen Entwicklungen in Brasilien werden die Spielräume für Ernährungsinitiativen aktuell sehr eingeschränkt. Doch die Errungenschaften der Ernährungsräte gelten weiterhin international als vorbildlich. Sie zeigen, dass eine gesunde und nachhaltige Ernährung möglich ist, wenn Politik und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten.
Interview mit Márcio Mattos de Mendonça, Koordinator für urbane Landwirtschaft bei der MISEREOR-Partnerorganisation AS-PTA
Wie hat sich die Ernährungssituation der Menschen seit den Filmaufnahmen im Jahr 2019 verändert?
Die Ernährungssituation in den armen Gemeinden von Rio de Janeiro hat sich seit dem Beginn der Corona-Krise dramatisch verschlechtert. Viele Menschen haben ihre Jobs verloren und konnten ihre Familien nicht mehr ernähren. Außerdem wurde es schwierig, sich frei in der Stadt zu bewegen und Lebensmittel einzukaufen. Auch die Produzenten, mit denen die AS-PTA arbeitet, stehen vor einer schwierigen Situation: Weil Märkte abgesagt oder verboten wurden, können sie ihre Bio-Produkte nicht wie gewohnt in die Stadt bringen und verkaufen.
Auf der anderen Seite haben sich die Menschen in den Gemeinden zusammengeschlossen und Hilfe organisiert. Z. B. konnte die Organisation CEM (Centro de Integraçao Serra da Misericórdia) umgerechnet rund 5.000 Euro Spendengelder sammeln, davon ökologisch erzeugte Lebensmittel kaufen und an bedürftige Familien in der Favela verteilen. Wir von AS-PTA haben den Kontakt zu den Produzenten, den Transport in die Stadt und die Verteilung unterstützt und bedürftige Familien ermittelt. Außerdem verteilt CEM Samen und Setzlinge. Die Notsituation trägt nämlich auch dazu bei, dass den Menschen die Bedeutung von städtischer Landwirtschaft und dem eigenen Anbau deutlicher wird.
Wie versuchen Sie, die Corona-Krise zu managen?
AS-PTA und viele andere Organisationen der Zivilgesellschaft stehen vor großen Herausforderungen. Die Situation ist ja auch für uns neu. Wir können aber auf ein Netzwerk und jahrelange Erfahrung in den Bereichen Ernährung, Agrarökologie und städtische Landwirtschaft zurückgreifen. Unsere Rolle sehen wir weiterhin darin, Produzent*innen und Konsument*innen mit unserem Wissen zu unterstützen und zusammenzubringen.
Um die schlimmste Not zu lindern, haben wir auch die Verteilung von Lebensmittelpaketen übernommen. Bisher sind es 3.000, davon 1.000 in Rio de Janeiro. Am Samstag werden wir weitere 400 Pakete verteilen. Das hilft den Bauern, denen wir ihre Produkte abkaufen – und den Menschen, die mit gesunden Lebensmitteln versorgt werden.
Was ist derzeit der Arbeitsschwerpunkt von AS-PTA?
Die Notsituation hat viel ausgelöst und wir sind immer noch in einem Restrukturierungsprozess. Man kann aber bereits jetzt festhalten, dass viele Netzwerke in den Gemeinden stärker wurden und damit auch unsere Partnerstruktur. Sehr aktiv unterstützen wir die kleinen Familienbetriebe aus den städtischen Randzonen, die ihre agrarökologischen Produkte auf den Märkten in der Stadt verkaufen. Wir unterstützen sie bei ihrer Lobbyarbeit gegen das Verbot von Märkten und helfen ihnen gleichzeitig dabei, Strukturen für die Direktvermarktung und die Belieferung von Haushalten auszubauen. Und natürlich arbeiten wir sehr eng mit Selbsthilfegruppen aus den Favelas, wie CEM, zusammen, die wichtige Aufklärungsarbeit rund um gesunde Ernährung leisten und die Produktion in eigenen Gärten anregen.
Das Interview führte Florian Kopp
„Überall auf der Welt bewegt sich etwas. Lassen wir uns von den positiven Beispielen inspirieren. Für eine ‚Ernährungsrevolution‘ braucht es mehr davon! Wir können den Herausforderungen begegnen, wenn wir voneinander lernen und uns zusammentun. Bei uns zuhause und weltweit.“, appelliert Clara-Luisa Weichelt von MISEREOR.