Sie sind schon etwas Besonderes, die kleinen, vielfältig bepflanzten Gemüsebeete bei Fürstenwalde an der Spree. Sehr eng beieinander wachsen auf gerade einmal zwei halben Hektar Salate, Bohnen, Zwiebeln, Paprika, Mangold, Mohrrüben, Kohlrabi, Koriander, Petersilie und vieles mehr im „biointensiven Anbau“. An den Rändern der Beete blühen Mohn und andere Wildblumen. Und in zwei ungeheizten Folientunneln warten dichte Reihen grüner Paprika und Tomaten aufs Rotwerden.
Biointensiver Anbau
Biointensiver Gemüseanbau ist vor allem in Kanada, den USA und Japan verbreitet. Historisches Vorbild sind die Marktgärtner des 19. Jahrhunderts in Paris, die in einem Grüngürtel um die Hauptstadt ganzjährig genug Gemüse produzierten, um die Bevölkerung der wachsenden Metropole zu versorgen. Biointensiver Anbau setzt auf Kompost, Gründüngung, eine ausgeklügelte Fruchtfolge, eine nur oberflächliche Bearbeitung des Bodens und enge Pflanzabstände. Die Beete werden so wenig wie möglich betreten und von Maschinen befahren, damit der Boden nicht zu sehr verdichtet und gestört wird. Das alles ermöglicht eine sehr hohe Produktivität auf sehr kleiner Fläche bei möglichst geringem Verbrauch an Ressourcen. Feuchtigkeit und Nährstoffe bleiben im Boden, der zudem CO2 bindet. Das erhöht die Widerstandsfähigkeit, auch gegen die Folgen des Klimawandels.
Diese Art der Bewirtschaftung von Agrarland ist hier, im Osten Brandenburgs, eher selten. Wie vielerorts prägen große Felder mit Mais und Weizen die Landschaft, über die im Sommer in Staubwolken gehüllte Mähdrescher ihre Bahnen ziehen. Das eigentlich überraschende an der Kleinstgärtnerei sind aber die Menschen, die hier jäten, pflanzen, bewässern, ernten, waschen und verpacken. Die 27-jährige Dana Ruth stammt aus Kalifornien, wo sie Politikwissenschaften studiert hat. Der 29-Jährige Nathan Levenson hat sich bei Seattle im Bundesstaat Washington zum Market Gardener ausbilden lassen. Und die 47-jährige Australierin Bron Carter ist bildende Künstlerin und Literatin. Alle drei leben in Berlin und pendeln drei Tage pro Woche mit Zug und Fahrrad hierher, um sich für das junge Unternehmen Tiny Farms um die Gemüsebeete zu kümmern – als Teilzeitfarmer sozusagen, neben ihren anderen Tätigkeiten in der Hauptstadt. „Ich arbeite in der Landwirtschaft, was ich immer schon wollte, und kann trotzdem Teil der internationalen Kulturszene in Berlin sein“, sagt Bron Carter und bückt sich wieder, um den nächsten frischen Salatkopf abzuschneiden.
Das ist genau eines der Ziele des von Tobias Leiber und Jacob Fels gegründeten Start-ups: Menschen aus anderen Berufen und Milieus in den Gemüseanbau bringen. „Wir brauchen neue Hände und Köpfe in der Landwirtschaft“, sagt Jacob Fels, der bisher Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit beraten hat, vor allem aus der Lebensmittelbranche. „Nur so lässt sich eines der größten Probleme im Gemüseanbau und in der Landwirtschaft lösen: der Nachwuchsmangel.“
Ein Grund für den Mangel an Nachwuchs sind die Arbeitszeiten. Rund um die Uhr ganzjährig für den Betrieb zuständig sein? Den Sommer durcharbeiten? Das passt für die meisten jungen Menschen nicht mehr. Dana Ruth zum Beispiel war gerade für eine Woche auf einem Festival in Italien. „Sie ist bestimmt die einzige Gemüsegärtnerin in Brandenburg, die sich im Sommer eine
Woche Urlaub gegönnt hat.“ Jacob Fels grinst.
Das Unternehmen
Tiny Farms aber will weit mehr als eine zeitgemäße Work-Life-Balance in der Landwirtschaft. Es geht den beiden Gründern um nichts weniger als eine Agrarwende, die den Namen verdient. Weg von großen Flächen mit Monokulturen, hin zu Kleinstfarmen mit naturnahem Anbau und kurzen Wegen zu den Verbrauchern. Das klingt im ersten Moment nach einer Nische. Doch die beiden Gründer wollen genau das Gegenteil. Tiny Farms soll vor allem große Kunden versorgen, indem das Start-up eine Vielzahl an Kleinstbetreiben zu einem großen Schwarm organisiert, der Supermarktketten und Großkantinen ebenso bedienen kann wie Caterer oder Schulküchen. Cluster von zehn und mehr Kleinstbetrieben sollen in einem Umkreis von etwa 100 Kilometern einen Markt beliefern, wie zum Beispiel vom Osten Brandenburgs aus den Markt in Berlin. Tiny Farms leitet die Kleinstbetriebe an, unterstützt sie bei der Bio-Zertifizierung, entwickelt Anbaupläne und liefert Jungpflanzen. Das Team in Berlin kümmert sich vor allem aber um die Vermarktung der Produkte und deren Transport.
Ausreichend Nachfrage nach regional produzierten Biolebensmitteln ist vorhanden. Sie übersteigt sogar bei Weitem das Angebot. So kommt es, dass in Biosupermärkten oft Gurken, Bohnen, Tomaten und Paprika aus Spanien, Ägypten, Kenia oder der Türkei selbst in der Saison das Angebot bestimmen, in denen die Produkte eigentlich regional produziert werden könnten. In Berlin etwa stammen nur drei bis fünf Prozent des Gemüses aus regionalem Anbau. In Nürnberg dagegen, Spitzenreiter in Sachen Konsum regionaler Lebensmittel, ist es ein Fünftel. „Das zeigt das Potenzial an Nachfrage, auf das wir abzielen.“ Das Smartphone von Jacob Fels klingelt und er setzt sich auf einen Baumstumpf, um an einer Telefonkonferenz mit Softwareentwicklern teilzunehmen. Tiny Farms entwickelt gerade ein digitales Portal, mit Arbeitsanweisungen und Tools für die Anbauplanung. Kurz bevor eine Farm ein Beet aberntet, findet sie dort Informationen darüber, welche Kunden welchen Bedarf angemeldet haben und kann das in ihrer Planung für die nächste Pflanzung berücksichtigen.
Ein Problem vieler herkömmlicher Betriebe ist ihre starre, zu langfristig angelegte Anbauplanung. „Die pflanzen Gurken, ohne zu wissen, wer sie später kaufen soll“, sagt Bron Carter. Die australische Künstlerin weiß genau, für wen sie gerade die Zuckerschoten zu früh erntet. Langsam geht sie an einer Pflanzenreihe entlang, um die noch unreifen abzupflücken.
Die noch unreifen? So hat es das „Ernst“ bestellt. Das Restaurant im Wedding zählt zu den aktuell angesagtesten – weit über die Grenzen Berlins hinaus. „Aus den noch unreifen Zuckerschoten bereiten sie veganen Kaviar zu“, weiß Bron. Das „Ernst“ hat zwei Beete auf der Farm gepachtet, auf dem das Team nach ihren Anweisungen anbaut. Das ist ein weiterer Baustein der Idee von Tiny Farms: feste Partnerschaften für Flächen, um in genauer Abstimmung die Wünsche der Kunden bedienen zu können. Das hilft auch dabei, möglichst wenig Überschuss zu produzieren. Im letzten Jahr hat Tiny Farms nach eigenen Angaben 97 Prozent seiner Ernte verkauft.
Der Kleinstbetrieb
Einen landwirtschaftlichen Betrieb zu betreiben erfordert nicht nur viel Arbeit, sondern auch viel Kapital. Deshalb gibt es schon lange einen Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft. Agrarland wird immer teurer. Landwirte sind häufig bis an ihr Lebensende verschuldet. Kleine und mittlere Höfe sterben. Nur die Großen überleben. Als Tiny Farmer kann man niedrigschwellig einsteigen, ohne sich gleich bis ans Lebensende zu verschulden, vor allem, wenn man sich eine Farm mit anderen Menschen teilt. Ein halber Hektar Land genügt. Kleine Flächen gibt es günstiger, weil sie Großbetriebe und Investoren nicht interessieren – alleine schon, weil sie nicht mit den großen Maschinen zu bearbeiten sind. „Das hier war vorher eine Schafweide.“ Jacob Fels, die Telefonkonferenz ist mittlerweile beendet, zeigt über das Gelände. „Die Pacht beträgt nur 500 Euro im Jahr, und wir bekommen häufig solche Flächen angeboten.“ Das minimiert die Kosten und nimmt den Druck von den Tiny-Farmern, ebenso die relativ überschaubare Investition von 30.000 Euro in die Betriebsausstattung. In einem Container lagern Schaufeln, Harken, Eggen und sonstiges Handwerkzeug sowie die Aufsätze eines kleinen, motorisierten Handpflugs und die Ersatzeile des Bewässerungssystems, das per Fernbedienung eingeschaltet werden kann. Pro Jahr kommt die Farm mit 2.000 Kilowatt elektrischer Energie aus. „Ein Kühlcontainer ist nicht notwendig, weil wir just in time liefern“, erklärt Fels.
Tiny Farms hat möglichst viel standardisiert: die Lage des Containers und die Wege zu den Beeten, die Beetbreiten und die Pflanzabstände, das Arbeitsgerät und die Planungssoftware. Zudem bietet das Start-up in seiner Akademie eine Grundausbildung für angehende Tiny Farmer an. Das Interesse ist groß. Die diesjährige Akademie ist ausgebucht. Nach den Berechnungen des Start-ups kann eine Tiny Farm von einem halben Hektar einen Umsatz von 60.000 Euro erzielen. Bezieht sie das Gesamtpaket der modular buchbaren Serviceleistungen von Tiny Farms, bleiben davon etwa 23.000 Euro im Jahr übrig. „Das genügt vielleicht nicht für ein volles, aber schon für ein relevantes Einkommen“, sagt Jacob Fels.
Gerade fährt ein Lieferwagen vor. Schnell stapelt das Team Kisten mit taufrischem Salat, Möhren, Radieschen und vielem anderen in den Laderaum. Dann geht es ab auf die Autobahn in Richtung Berlin. Als erstes fährt der Fahrer das Zentrallager von LPG Biomarkt an, einer zehn Filialen starken Berliner Biolebensmittelkette. Dann geht es zu zwei Restaurants, später zu dem aus der Lebensmittelrettung entstandenen Gemüsekistenanbieter Querfeld, zu drei Schulcaterern und dem gemeinschaftlichen Supermarkt SuperCoop.
Expansionspläne
Das Konzept kommt an. Bald will Tiny Farms in Kooperation mit der Stadt Hamburg in den Vier- und Marschlanden, einem traditionellen Gemüseanbaugebiet an der Elbe, ein Leuchtturmprojekt
starten. Tiny Farms sind auch in Sachsen-Anhalt und der Uckermark geplant. 1.000 Farmen bis 2030, so das ehrgeizige Ziel des Start-ups. Laut Businessplan soll Tiny Farms bereits ab 25 Farmen schwarze Zahlen schreiben. Eine Förderung des Landwirtschaftsministeriums ist gerade ausgelaufen. Vor Kurzem hat ein Investor ein Fünftel des Unternehmens übernommen.
Eine Herausforderung des Schwarmkonzeptes könnte sein, dass Caterer möglichst alle Waren von einem Lieferanten beziehen wollen, ähnlich wie Supermärkte viel aus ihrem Zentrallager. Aber alle brauchen regionale Lebensmittel und die Agrarwende ist dringend notwendig. Von daher kommt es genau zur richtigen Zeit, das besondere Konzept für die Farmer von morgen, das in Fürstenwalde an der Spree seinen Anfang nimmt.
Der Artikel ist erschienen in Ernährung im Fokus 03 2022.