Der United Nations Food System Summit (UNFSS) hat sich kürzlich dem notwendigen Wandel unseres globalen Ernährungssystems gewidmet. Er war ein groß angelegter UN-Gipfel, der Ende September 2021 im Rahmen der UN-Generalversammlung in New York stattfand.
Der Begriff Ernährungssystem ist komplex (von Braun et al. 2021a; Nguyen 2018). Er umfasst die Art und Weise, wie Nahrungsmittel produziert, gehandelt, verarbeitet und konsumiert werden inklusive der beteiligten Akteurinnen und Akteure und den entsprechenden sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen ihres Handelns (Welthungerhilfe 2019).
Bereits seit der Ankündigung des Gipfels im Oktober 2019 arbeitete eine Vielzahl von Fachkräften in unterschiedlichen Arbeitssträngen und Themenbereichen. So fanden über 1.500 verschiedene Dialoge statt, an denen – laut Veranstaltenden – über 100.000 Teilnehmende beteiligt waren (United Nations Food System Summit 2021a), und deren Ergebnisse in den Gipfel einfließen sollten (Patton et al. 2021). Zudem flankierte ein hochkarätiges Wissenschaftsgremium den Gipfel, das dafür sorgen sollte, dass wissenschaftliche Erkenntnisse angemessen in den Verhandlungen widergespiegelt und aufgegriffen werden (von Braun et al. 2021b). Dies beinhaltete zum Beispiel auch eine (Neu-)Definition des Begriffs „Healthy Diet“ (Neufeld et al. 2021). Dieses Gremium veröffentlichte eine Reihe von Publikationen (United Nations Food Systems Summit – Scientific group 2021), organisierte die „Science days“ und ermöglichte die Organisation von wissenschaftlichen Fachpodien, deren Ergebnisse als „independent dialogues“ in die Ausgestaltung des Gipfels einflossen.
Das große Interesse an diesem Prozess kumulierte in einem virtuellen Vorgipfel Ende Juli in Rom mit 22.000 Teilnehmenden und im Hauptgipfel in New York, zu dem 157 Delegierte der UN-Mitgliedsstaaten auf Einladung von UN-Generalsekretär António Guterres zugeschaltet waren.
Beim Hauptgipfel verpflichteten sich über 150 Staaten in „national pathways“ dazu, ihr eigenes nationales Ernährungssystem auf die jeweils passende Weise und in der ihnen vorschwebenden Tiefe zu transformieren.
Zudem wurden nichtstaatliche Akteure aufgerufen sich zu äußern, wie ihr verpflichtender Beitrag zur Verbesserung der Ernährungssysteme aussehen wird.
Kritik
Seit den frühesten Planungen gab es von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Gründen Kritik am UNFSS-Prozess. Wichtigster Punkt war das Multiakteursformat. Dieser für UN-Verhältnisse neue Ansatz nimmt Nationalstaaten aus der direkten Verantwortung, eine Systemwende zu initiieren sowie zu kanalisieren, und definiert unter anderem Vertretende von Konzernen, die maßgeblich an nichtnachhaltigen Systemen beteiligt sind, zu legitimen Verhandlungspartnern.
Dieser und weitere Kritikpunkte führten zu einem „Gegengipfel“ (Food Systems 4 People 2021) im Juli 2021, an dem rund 9.000 Menschen teilnahmen. Dort diskutierten vor allem Vertretungen zivilgesellschaftlicher Organisationen und indigener Gruppen alternative Wege für eine Transformation des globalen Ernährungssystems. Im Zentrum standen menschenrechtsbasierte und agrarökologische Ansätze, Nutzen und Anwendung traditionellen Wissens sowie Ernährungssouveränität.
Der Gipfel
Der Gipfel selbst war als fundamentaler „game-changer“ angekündigt worden: Er sollte die Pole des globalen Ernährungssystems radikal neu ausrichten und wesentlich zu seiner nachhaltigeren Ausgestaltung beitragen. Aber die Erwartungen an den Gipfel waren zu hoch, die von allen erwartete Weichenstellung für ein neues globales Ernährungssystem blieb aus.
Offene Fragen
Wesentliche Probleme des Gipfels sind
- Freiwilligkeit der Verpflichtungen,
- von ganz unterschiedlichen Akteuren und Akteursgruppen abgegebene Vielfalt an „commitments“ zu einzelnen Aktionen/Veränderungen,
- Umsetzungskontrolle der Selbstverpflichtungen,
- Gefahr, dass Staaten ihrer Verantwortung nicht gerecht werden und sich nicht in der Pflicht sehen, die Weichenstellungen für eine tatsächliche Systemtransformation vorzunehmen,
- Fehlen einer radikalen systemischen Neuordnung zugunsten zahlreicher nationaler Aktionspläne – Lösungsstrategien, die auf die jeweiligen nationalen Belange ausgerichtet sind.
Diskussion
Zwar ist es richtig und wichtig, kontextspezifische Lösungen zu entwickeln, die auch kulturelle und naturräumliche Faktoren als Kernelemente beinhalten, die Herausforderungen unserer Ernährungssysteme aber enden nicht an Staatsgrenzen. Wesentliche Aspekte wie internationale Handelsströme, Wasser-und Stoffkreisläufe, jedoch auch finanzielle und politische Ungleichgewichte zwischen Staaten und Regionen müssen zentral mitgedacht werden.
Um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirkungsvoll zu begegnen, darf es nicht nur zu einer marginalen Optimierung des bisherigen Ernährungssystems kommen, im Gegenteil: Das Ernährungssystem muss an zentralen Stellen und in zentralen Prozessen neu gedacht und neu aufgerollt werden.
Bei aller Kritik am UN-Gipfel bleibt allerdings festzuhalten, dass der Wandel des globalen Ernährungssystems seitdem prominent in der Agenda der internationalen Staatengemeinschaft verankert ist – zumindest im Moment. Das ist für sich genommen ein Erfolg, auch wenn er nicht den aktuellen Ansprüchen genügt.
Ausblick
Im Nachgang des Gipfels wird es erstens darauf ankommen, Aufbau und Ausgestaltung nachhaltiger Ernährungssysteme auch weiterhin als essenzielle Bausteine der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu verstehen. Ernährungssysteme müssen Chefsache bleiben.
Zweitens kommt es darauf an, kurz-, mittel- und langfristig die Erfüllung und Ausgestaltung der Commitments zu begleiten, zu überwachen und konsequent nachzuverfolgen. Es ist dringend geboten, vor allem die Stakeholder in die Pflicht zu nehmen, die jetzt mit ihren Selbstverpflichtungen offensiv an die Öffentlichkeit treten.
Drittens werden sich die nationalen Aktionspläne (United Nations Food System Summit 2021b) vor allem daran messen lassen müssen, ob sie die Situation der Menschen verbessern, die von den sozialen und ökologischen Folgen des existierenden Ernährungssystems am stärksten betroffen sind: indigene und andere sozial benachteiligte Gruppen vor allem im globalen Süden. Dazu sind auch im globalen Norden systemische (Politik-)Folgeabschätzungen notwendig, die überprüfen, wie sich wirtschaftliche und p olitische Initiativen auf die Ernährungssysteme im globalen Süden auswirken. Vor allem die Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung muss hier eine zentrale Rolle spielen.
Viertens müssen Machtungleichheiten im globalen Finanz- und Handelssystem dauerhaft überwunden werden, denn nur so lassen sich wirklich nachhaltige Ernährungssysteme entwickeln und implementieren.
Artikel erschienen in Ernährung im Fokus 04 2021
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Wo bleibt die Trendwende im globalen Ernährungssystem? (kostenloser Download, PDF, 237 KB)