Essen vor laufender Kamera: Mukbang-Videos als Online-Phänomen (PDF-Download)
Die meisten Menschen lieben Mahlzeiten in Gesellschaft. Doch was, wenn die eigenen Essenszeiten nicht zum Tagesplan der anderen passen? Videos, die Menschen beim Essen zeigen, wollen diese Lücke füllen: „Mukbang“ heißt die Idee aus Südkorea, die zusehends auch hierzulande Verbreitung findet. Was jedoch auf den ersten Blick nach harmloser Unterhaltung aussieht, könnte essgestörtes Verhalten fördern.
Eine typische Szene: Die Kamera schwenkt über einen üppig gedeckten Tisch, auf dem sich Berge dampfender Bratnudeln, knusprig frittiertes Huhn und scharf gewürzte Oktopusarme türmen. Seo Yoon, eine schlanke, junge Frau mit seitlich abstehenden Zöpfen, begrüßt ihr Online-Publikum mit einem Lächeln und beschreibt, was sie heute essen wird. „So, jetzt habe ich aber Hunger”, sagt sie und greift nach einem goldgelben Hähnchenschenkel. Als ihre Zähne die knusprige Hülle durchbrechen, ist ein lautes Knacken zu hören. Mit geschlossenen Augen genießt sie den Moment, während die fast zehn Millionen Menschen, die ihren Kanal abonniert haben, ihren Kau- und Schmatzgeräuschen lauschen.
Begriffserklärung
„Mukbang“ (auch: „Meokbang“) ist eine Wortneubildung aus den koreanischen Wörtern „meokneun“ (essen) und „bangsong“ (übertragen). Der Begriff steht für ein Streaming-Angebot aus Südkorea, bei dem Menschen unterschiedlich große Mengen an Nahrung zu sich nehmen und sich dabei filmen. Die Videos wurden ursprünglich von Einzelpersonen live übertragen und verfügten über eine Chatfunktion, die es dem Publikum ermöglichte, in Echtzeit mit dem Host und anderen Zuschauenden zu kommunizieren. Seit 2014 haben sich die Mukbang- Videos zu einem weltweit bekannten Phänomen entwickelt (Strand, Gustafsson 2020, Sanskriti et al. 2023). Nicht nur in asiatischen Ländern wie Südkorea, Indonesien oder auf den Philippinen suchen YouTube-Nutzer nach Mukbang-Inhalten, auch in Norwegen, Neuseeland, Schweden, Australien, den USA, Kanada, den Niederlanden und im Vereinigten Königreich sind die Videos beliebt (GoogleTrends 2023). Sie haben in den letzten Jahren hohe Followerzahlen erlangt, nicht zuletzt durch die Tatsache, dass „Food“ YouTubes beliebteste Kategorie war und ist (Maj 2018). Mukbang-Größen wie Zach Choi haben 24 Millionen Follower; sein beliebtestes Video wurde 86 Millionen Mal aufgerufen (YouTube 2023).
Ursprung der Mukbang-Formate
Gemeinsame Mahlzeiten haben in der koreanischen Kultur einen hohen Stellenwert. Dies spiegelt sich auch in der koreanischen Sprache wider: Der Begriff „ “ (sik-gu) lässt sich sowohl als „Familie“ als auch als „Menschen, die sich nahestehen und gemeinsam essen“ übersetzen. Im Kontext der kollektivistischen koreanischen Gesellschaft stärkt das gemeinsame Essen das Gefühl, Teil einer größeren sozialen Einheit zu sein und von dieser akzeptiert und unterstützt zu werden. Doch wie in Europa vollzieht sich auch in Ostasien ein gesellschaftlicher Wandel: So war es in der Vergangenheit üblich, dass koreanische Familien in Mehrgenerationenhaushalten zusammenlebten. Mit der raschen Urbanisierung und dem wirtschaftlichen Wachstum Südkoreas veränderte sich diese Tradition. Der Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und Privatsphäre wuchs. Vor allem die jüngere Generation strebte danach, einen eigenen Haushalt zu gründen und Bildungs- und Karrieremöglichkeiten in städtischen Gebieten wahrzunehmen. Mittlerweile leben mehr Menschen allein oder in kleineren Haushalten als in traditionellen Großfamilien (KOSIS 2020). In der Folge hat sich auch das Essverhalten verändert. Traditionell werden in ostasiatischen Ländern wie Korea, Japan und China viele verschiedene Gerichte in der Mitte des Tisches platziert, von denen sich alle bedienen können. Die Vielfalt an Farben, Gerüchen, Geschmacksrichtungen und Texturen macht das Essen zu einem Erlebnis. Doch heute entscheiden sich viele Alleinlebende für einfachere Mahlzeiten, die weniger Zeit und Mühe bei der Zubereitung erfordern. Lange Arbeitszeiten und die Erwartung der Arbeitgeber, auch nach Feierabend noch mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzusitzen, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, reduzieren die Freizeit auf ein Minimum und damit auch die Möglichkeit, nährende freundschaftliche oder familiäre Kontakte zu pflegen (OECD 2019). Ursprünglicher Zweck der Mukbang-Videos war es, Gefühle der Einsamkeit und Isolation zu reduzieren, die aus der neuen Lebensweise folgten: Die Zuschauenden konnten ihre Mahlzeiten einnehmen, während sie zeitgleich den Streamenden beim Essen zusahen und sich mit ihnen und anderen Fans via Live-Chat austauschten (Strand, Gustafsson 2020, Kircaburun et al. 2020, Sanskriti et al. 2023).
Für Menschen, die alleine leben, aber auch für Personen, die aufgrund beruflicher oder schulischer Verpflichtungen begrenzte Möglichkeiten zur Pflege persönlicher Beziehungen haben, können durch die Videos eine Art virtuelles Gemeinschaftserlebnis schaffen und dabei offenbar kulinarischen Genuss in den Alltag integrieren (Kircaburun et al. 2020, Sanskriti et al. 2023).
Mukbang im Wandel
Obwohl Mukbang-Videos im klassischen Live-Streaming-Format noch existieren, werden die meisten Inhalte heutzutage aufgezeichnet und anschließend über YouTube oder TikTok verbreitet (Strand, Gustafsson 2020). Mit dem Übergang vom Live-Streaming zu aufgezeichneten Inhalten trat das Element der Interaktivität deutlich in den Hintergrund. Auch die in den Videos gezeigten Portionsgrößen haben sich seitdem stark verändert (YouTube 2020). Mit zunehmender Popularität des Genres wurde ersichtlich, dass sich die Zuschauenden vor allem für das Verschlingen außergewöhnlich großer Nahrungs- und Kalorienmengen und für den Verzehr besonders scharfer Lebensmittel begeistern. Essgelage, bei denen die Zeit gestoppt und entsprechend „geschlungen“ wird, sind signifikant beliebter als Videos, in denen sich die Mukbanger Zeit lassen (Kang et al. 2020). Die Gründe dafür wurden bis dato nicht näher untersucht. Studienergebnisse zu ähnlichen medialen Formaten eröffnen möglicherweise Begründungszusammenhänge (Rubenking, Lang 2014).
Gründe der Popularität
Wer die Kommentare unter Mukbang-Videos liest, stellt fest, dass selbst Personen, die sich beim Anblick der Bilder ekeln, oft den Blick nicht abwenden können (vgl. www.youtube.com watch?v=Y35yPXtJbp4 ) Mit diesem Phänomen sind viele - Horrorvideos und Stuntvideos aus dem Jackass-Franchise sei Dank - wohl vertraut (Rubenking, Lang 2014).
Neugier und Sensationslust
Horrorfilme und Stunts der Anfang der 2000er-Jahre beliebten Fernsehsendung Jackass haben eines gemeinsam: Sie zeigen Blut, Fäkalien, Erbrochenes oder blutige Verletzungen und spielen bewusst mit den Emotionen der Zuschauenden, insbesondere mit Angst und Ekel. In einer 2014 veröffentlichten Studie gingen Rubenking und Lang den Ursachen der Popularität auf den Grund. Ihr Erklärungsansatz: Wenn unsere Vorfahren Ekel empfanden, etwa weil sie sich mit Blut, Krankheit, Leichen oder Fäkalien konfrontiert sahen, dann waren Angst und Ekel in einer Welt ohne moderne medizinische Versorgung und Antibiotika die Emotionen, die dazu beitrugen, das eigene Überleben zu sichern. Die Reaktion, sich von dem ekelerregenden Objekt fernzuhalten, es gleichzeitig aber nicht zu ignorieren, um die von ihm potenziell ausgehende Gefahr besser einschätzen zu können, war also sinnvoll (Rubenking, Lang 2014). Vielleicht trägt diese evolutionär gefestigte Reaktion heutzutage dazu bei, dass so viele Menschen, allem Ekel zum Trotz, den Blick nicht abwenden können, wenn Mukbanger lautstark schlürfend und schmatzend einen Berg extrem scharfer Nudeln oder riesiger, roher Oktopusarme verschlingen. Auch das Gefühl der Angstlust mag hier eine Rolle spielen: die Schärfe und der damit verbundene Schmerz, die riesigen Portionen und das damit verbundene extreme Völlegefühl oder die Ungewissheit, wie es einem nach dem Verzehr noch zappelnder Weichtiere ergeht.
Besondere Sinnesreize
Viele der populärsten Mukbang-Videos beinhalten ASMR-Elemente. ASMR steht für „Autonome sensorische Meridianreaktion“ und bezeichnet ein angenehmes Gefühl, das manche Menschen in Reaktion auf bestimmte Sinnesreize empfinden. Diese können akustischer Natur sein, zum Beispiel ein Flüstern, Kauen, Schmatzen oder Schlürfen des Hosts. Ähnlich können optische Reize wirken, etwa glitzernde oder glänzende Speisen und Lebensmittel in ungewöhnlichen Formen oder Farben. ASMR wird oft als kribbelndes Gefühl beschrieben, das auf der Kopfhaut beginnt und sich über den Nacken und die obere Wirbelsäule nach unten fortsetzt. Beim Zuschauenden löst diese Wahrnehmung typischerweise Wohlbefinden und Entspannung aus (Anjani et al. 2020, Kircaburun et al. 2020, Sanskriti et al. 2023, Strand, Gustafsson 2020).
Unterhaltung und Information
Eine besondere Kategorie der Mukbang-Videos sind die sogenannten Storytime-Mukbangs. Sie wollen einen besonderen Unterhaltungs-und Informationswert bieten. Dazu berichtet der Mukbanger während des Essens zum Beispiel von persönlichen Erfahrungen oder diskutiert das Weltgeschehen. Häufig handelt es sich um Promi-News (vgl. www.youtube.com/watch) oder Kriminalfälle (vgl. (www.youtube.com/watch). Andere Mukbanger reisen um die Welt, um vor Ort lokale Spezialitäten zu probieren. Sie teilen Fakten über die Gerichte, deren Geschichte und Zubereitung und damit verbundene Traditionen. Mitunter empfehlen sie landestypische Restaurants, Märkte oder Straßenstände.
Stellvertretendes Essen und Essstörungen
Menschen, die selbst hungern, beschäftigen sich oft intensiv mit dem Essen, zum Beispiel indem sie Rezepte sammeln, sich Kochsendungen ansehen oder Mahlzeiten für Freunde und die Familie zubereiten, ohne selbst davon zu essen (Crisp et al. 1980, Strand, Gustafsson 2020). Navigiert man durch die Kommentare der Mukbang-Fans, fällt auf, dass viele ihre eigene Nahrungsaufnahme bewusst einschränken, entweder zum Beispiel im Rahmen einer Diät, aufgrund einer religiösen Fastenzeit oder einer Essstörung. Einige Zuschauende erklären, dass sie „stellvertretend essen“, indem sie die Mukbanger bei der Nahrungsaufnahme beobachten und dadurch das Gefühl haben, selbst nicht essen zu müssen (Strand, Gustafsson 2020). Den Äußerungen zufolge geht dieses Empfinden oft mit einem Gefühl von Stolz und Überlegenheit einher (Übersicht 1). Der Wunsch „stellvertretend zu essen“ ohne Gewicht zuzunehmen, scheint die am weitesten verbreitete Motivation für das Ansehen von Mukbang-Inhalten zu sein (Hakimey, Yazdanifard 2015, Gillespie 2019, Choe 2019, Kircaburun et al. 2020). Andere Nutzer geben an, dass sie sich durch den Anblick der übergroßen Essensmengen und der Art und Weise, wie diese verschlungen werden, gezielt selbst den Appetit verderben (Strand, Gustafsson 2020). Das scheint besonders häufig der Fall zu sein, wenn es sich bei den Mukbang-Hosts um übergewichtige Menschen handelt (Reddit 2018). Beim Anblick einer adipösen Person, die vor laufender Kamera einen Essanfall auslebt, sieht sich eine anorektische oder bulimische Person offenbar in ihrer Selbstwahrnehmung bestätigt („Wenn ich esse, werde ich dick“) und konfrontiert sich dabei mit ihren größten Ängsten: dem Kontrollverlust und einer Gewichtszunahme. Das Video dient in diesem Fall als abschreckendes Beispiel (Reddit 2020).
Essrealitäten
Wie viele Mukbanger selbst von einer klinisch relevanten Essstörung im Sinne einer Binge-Eating-Störung, einer Bulimia nervosa oder einer Anorexia nervosa vom Purging-Typ betroffen sind, ist wissenschaftlich nicht untersucht. Wenn jedoch eine Person regelmäßig innerhalb kürzester Zeit zehn- oder fünfzehntausend Kalorien aufnimmt, liegt es nahe, dass sich langfristig ein gestörtes Essverhalten entwickelt oder bereits vorliegt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Essanfall im Geheimen stattfindet oder für ein Millionenpublikum aufgezeichnet wird. Auffällig ist allerdings, dass viele, vor allem weibliche Mukbanger sehr schlank sind. Zwar können Faktoren wie Stoffwechsel, genetische Disposition und Lebensstil im Einzelfall dazu beitragen, dass sich trotz wiederholter höchstkalorischer Essanfälle keine Gewichtszunahme einstellt, es ist jedoch anzunehmen, dass zumindest einige der Hosts weitere Maßnahmen ergreifen, um eine Gewichtzunahme zu vermeiden. Dazu gehören technische Mittel wie das Schneiden und Editieren der Videos, um mehrere Mahlzeiten so aussehen zu lassen als wäre es eine oder der Einsatz von Perspektive und Filtern, um die Portionen größer erscheinen zu lassen. Nicht ausschließen lässt sich zudem, dass aktive Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wie sie im Rahmen einer Essstörung typisch sind, darunter das Ausspucken der Nahrung vor dem Hinunterschlucken, kompensatorisches Erbrechen, Fasten, exzessive Bewegung oder der Missbrauch von Laxantien oder Diuretika.
Gefährliche Glorifizierung
Dass Mukbang-Videos das Essverhalten ihrer Zielgruppe beeinflussen, liegt nahe. So etwa konnten von Ash et al. (2023) einen positiven Zusammenhang zwischen Essstörungssymptomen, vor allem Binge Eating und Purging-Verhalten, und einem intensiven Mukbang-Video- Konsum zeigen. Sie stellten zudem fest, dass Testpersonen mit einer höheren Unzufriedenheit in Bezug auf den eigenen Körper häufiger Mukbang-Videos ansehen (von Ash et al. 2023). Das ist angesichts der Inhalte im Kommentarbereich der Videos besorgniserregend: Während schlanke bis untergewichtige Mukbanger für ihre Essvorführungen gepriesen und bewundert werden und zahlreiche Komplimente zu ihrem Aussehen erhalten, werden übergewichtige Mukbanger für das gleiche Verhalten oft heftig kritisiert, beschimpft oder verhöhnt (Strand, Gustafsson 2020) (Übersicht 2). Diese stigmatisierende und oberflächliche Bewertung von Menschen allein nach ihrem Aussehen und Gewicht trägt zur Diskriminierung übergewichtiger Personen bei und kann zu einer verminderten Selbstachtung, einem gestörten Körperbild und psychischen Erkrankungen führen oder diese verstärken. Gleichzeitig betont die übermäßige Bewunderung schlanker Mukbanger unrealistische Schönheits- und Körperideale und erhöht so den Druck, insbesondere auf junge Zuschauende, diesem Ideal zu entsprechen (Mingoia et al. 2017, Saiphoo, Vahedi 2019, Markey, Daniels 2022). Menschen mit einer bereits bestehenden Körperschemastörung oder Essstörung können so in ihrer verzerrten Wahrnehmung verharren und sich dazu veranlasst fühlen, (noch weiter) in ungesunde Ess- oder Verhaltensweisen abzugleiten (Groesz et al. 2002, Grabe et al. 2008, Ferguson 2013).
Auswertungen von Kommentaren zu Mukbang-Videos zeigen, dass einige Menschen sich durch die Videos zu einem Mehrkonsum von Lebensmitteln veranlasst sehen (Übersicht 1). Auch das ist eine nachvollziehbare, jedoch gesundheitlich ungünstige Reaktion, da die Videos übergroße Portionen normalisieren und zum Nachahmen ermutigen. Sie präsentieren Völlerei als lustvolle und entspannende Aktivität, ohne unabwendbare unangenehme Konsequenzen zu thematisieren.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass der regelmäßige Konsum von Mukbang-Videos die Wahrscheinlichkeit übergewichtig zu sein oder zu werden, um etwa 7,5 Prozent erhöht (Yeon 2023).
Die Tatsache, dass manche Personen nach dem Konsum von Mukbang-Videos ein geringeres Bedürfnis verspüren zu essen, während andere erst recht essen wollen, scheint widersprüchlich zu sein. Vermutlich lassen sich die gegensätzlichen Motivationen und Reaktionen auf individuell unterschiedliche Hirnreaktionsprofile zurückführen: Manche Menschen können dem Anblick appetitlicher Lebensmittel problemlos widerstehen, während andere sie unwiderstehlich finden. So konnten Versace et al. in ihrer 2019 veröffentlichten Studie zeigen, dass manche Menschen auf Essensreize mit einer stärkeren Hirnaktivität reagieren als auf erotische Bilder und in Folge mehr als doppelt so viel essen wie die Menschen, bei denen die neurophysiologischen Reaktionen anders sind (Versace et al. 2019).
Gesundheitsrisiken durch Mukbang
Essanfälle können sowohl kurz- als auch langfristige Folgen haben. Akute Symptome wie ein postprandiales Völlegefühl, Übelkeit, gastroösophagealer Reflux, Bauchschmerzen, Flatulenz, Diarrhöe oder Obstipation können unmittelbar nach dem Essanfall auftreten (Sato, Fukudo 2015, Chami et al. 1995, Wang et al. 2014, Boyd et al. 2005, Cremonini et al. 2009). Langfristig können wiederholte Essanfälle zu einer Gewichtszunahme führen, aus der sich auch eine Adipositas entwickeln kann (Udo, Grilo 2018, McCuen-Wurst et al. 2018, Agüera et al. 2021). Starkes Übergewicht geht bekanntermaßen mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hormon- und Stoffwechselstörungen, Typ-2-Diabetes, arterieller Hypertonie und weiteren gesundheitlichen Problemen einher (Afshin et al. 2017, Zorena et al. 2020, Kloock et al. 2023). Darüber hinaus können Essanfälle beispielsweise zu gestörter Magen-Darm-Motilität, verzögerter Magenentleerung und Magenruptur mit potenziell tödlichem Ausgang führen. Ebenfalls beschrieben wurden Magendilatationen mit Perforation nach Essanfällen bei Anorexia nervosa (Purging-Typ), Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung mit (Saul et al. 1981; Sinicina et al. 2005; Watanabe et al. 2008; Hattori et al. 2008; Kim et al. 2009; di Luca et al. 2018; Swed et al. 2022; Han et al. 2022) oder ohne Todesfolge (Willeke et al. 1996; Nakao et al. 2000; Han et al. 2022). Das Risiko einer Magenruptur mit Todesfolge besteht auch bei isolierten Essanfällen (Cioffi et al. 2022). Aktive Gegenmaßnahmen wie kompensatorisches Erbrechen oder der Abusus von Laxantien oder Diuretika können außerdem schwere Hypokaliämien hervorrufen, die wiederum potenziell tödliche ventrikuläre Tachyarrhythmien nach sich ziehen können (Ravaldi et al. 2003; Facchini et al. 2006; Finsterer, Stöllberger 2014; Hsu et al. 2021; Mehler et al. 2022).
Gegenmaßnahmen
Bis dato wurde nur wenig unternommen, um die Verbreitung von Mukbang-Videos zu unterbinden. Im April 2023 kündigte Dr. Garth Graham, Direktor von YouTube Health, an, dass die Plattform zukünftig ihre Regeln für Inhalte, die zum Nachahmen von essgestörtem Verhalten ermutigen könnten, verschärfen werde. Konkret bezog er sich auf Videos, „die ein gestörtes Essverhalten zeigen“ wie das „Erbrechen nach dem Essen oder eine massive Einschränkung der Kalorienzufuhr“ (Graham 2023). Videos, die einen „hinreichenden […] künstlerischen Kontext aufweisen“, sollten jedoch nur eine Altersbeschränkung erhalten. Daher ist davon auszugehen, dass die profitablen Mukbang-Videos von der strengeren Regulierung nicht betroffen sein werden. China hat im Rahmen seiner Kampagne gegen Lebensmittelverschwendung einen anderen Weg eingeschlagen und beschlossen, Völlerei in der Öffentlichkeit und in den sozialen Medien zu verbieten. Das betrifft auch das Angebot chinesischer Mukbang-Videos. Nach dem neuen chinesischen Gesetz können Medienplattformen, die Inhalte von Menschen verbreiten, die sich überessen oder die Lebensmittel verschwenden, mit Geldstrafen von bis zu 100.000 chinesischen Yuan (ca. 12.680 Euro) belegt werden (NPC 2021). Als Folge wurden bereits Tausende Mukbang-Konten geschlossen und zahlreiche Videos von den Social-Media-Plattformen Douyin und Weibo entfernt.
Für Personen, die regelmäßig Mukbang-Videos ansehen, ist es ratsam, die Beweggründe für den eigenen Konsum zu hinterfragen und zu reflektieren, ob die Inhalte ihre geistige und physische Gesundheit fördern oder ihr eher schaden. Eltern und therapeutischem Fachpersonal sei geraten, sich der potenziell triggernden Wirkung von Mukbang-Videos bewusst zu sein, um den Umgang mit solchen Inhalten mit ihren Kindern und Klienten reflektieren zu können.
Dass die Nutzung sozialer Netzwerke bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen positiv mit essgestörtem Verhalten und einem negativen Körperbild assoziiert ist, weiß man bereits seit einigen Jahren (Wilksch et al. 2020, Rounsefell et al. 2020). Schulen sollten im Unterreicht aktiv über die Wirkungen ernährungsbezogener Social-Media-Inhalte aufklären und dabei nicht nur Diättipps und Clean-Eating-Trends, sondern auch Mukbang-Inhalte thematisieren.
Fazit
Mukbang-Fans schauen sich die Inhalte der einschlägigen Videos aus unterschiedlichen Gründen an. Während manche Gefühle von Einsamkeit reduzieren oder unterhalten werden wollen, nutzen andere, teilweise unter Essstörungen leidende Menschen, die Inhalte, um sich absichtlich den Appetit zu verderben oder Genuss und Sättigung zu erfahren, ohne selbst zu essen (Hakimey, Yazdanifard 2015, Gillespie 2019, Choe 2019, Kircaburun et al. 2020).
Mukbang-Videos haben weltweit einen großen Bekanntheitsgrad erlangt (Strand, Gustafsson 2020, Sanskriti et al. 2023, GoogleTrends 2023). Da die Inhalte heutzutage vorrangig über YouTube und TikTok verbreitet werden, erreichen sie vor allem Millenials (Geburtsjahre 1981–1996) und die Generation Z (Geburtsjahre 1997–2012). Während Millenials ihren Food-Content vorrangig über YouTube beziehen, erreicht TikTok vor allem die Folgegeneration (Statista 2022, Statista 2023). Diese ist aufgrund ihres jungen Alters besonders vulnerabel hinsichtlich der Entwicklung von Essstörungen (Udo, Grilo 2018). Mukbang-Videos, die den Verzehr normaler Portionsgrößen zeigen, können tatsächlich unterhalten, informieren und womöglich ein Gefühl von Geselligkeit generieren (Hakimey, Yazdanifard 2015, Spence et al. 2019, Choe 2019). Videos, in denen die Streamenden dagegen übermäßige Essmengen konsumieren, verharmlosen dagegen aller Wahrscheinlichkeit nach ein gestörtes Essverhalten. Solche geplanten und vor der Kamera inszenierten Essattacken können ungesundes und essgestörtes Verhalten fördern und weiter verbreiten (Bruno, Chung 2017, Donnar 2017, Hong, Park 2018, Park 2018, Shipman 2019, Spence et al. 2019, Kircaburun et al. 2020, Kim et al. 2021, Wu et al. 2023).
Vor allem staatlich geförderte Institutionen und Bildungseinrichtungen in unserer Gesellschaft tragen mit Verantwortung dafür, ein Bewusstsein für problematische Inhalte in den Social Media, zum Beispiel auch in Mukbang-Videos, zu schaffen und sich für umfassende Regulierungen, Aufklärungs-, Bildungs- und Unterstützungsmaßnahmen stark zu machen.