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New Africa / stock.adobe.com

Essen vor laufender Kamera: Mukbang-Videos als Online-Phänomen (PDF-Download)

Die meisten Menschen lieben Mahlzeiten in Gesellschaft. Doch was, wenn die eigenen Essenszeiten nicht zum Ta­gesplan der anderen passen? Videos, die Menschen beim Essen zeigen, wollen die­se Lücke füllen: „Mukbang“ heißt die Idee aus Südkorea, die zusehends auch hier­zulande Verbreitung findet. Was jedoch auf den ersten Blick nach harmloser Unterhaltung aussieht, könnte essgestörtes Verhalten fördern.

Eine typische Szene: Die Kamera schwenkt über einen üppig ge­deckten Tisch, auf dem sich Berge dampfender Brat­nudeln, knusprig frittier­tes Huhn und scharf gewürzte Oktopusar­me türmen. Seo Yoon, eine schlanke, junge Frau mit seitlich abste­henden Zöpfen, begrüßt ihr Online-Publikum mit einem Lächeln und be­schreibt, was sie heute es­sen wird. „So, jetzt habe ich aber Hunger”, sagt sie und greift nach ei­nem goldgelben Hähnchenschenkel. Als ihre Zähne die knusp­rige Hülle durchbrechen, ist ein lautes Knacken zu hören. Mit geschlossenen Augen genießt sie den Moment, während die fast zehn Millionen Menschen, die ihren Kanal abonniert ha­ben, ihren Kau- und Schmatzgeräuschen lauschen.

Begriffserklärung

„Mukbang“ (auch: „Meokbang“) ist eine Wortneubildung aus den koreanischen Wörtern „meokneun“ (essen) und „bangs­ong“ (übertragen). Der Begriff steht für ein Streaming-Angebot aus Südkorea, bei dem Menschen unterschiedlich große Men­gen an Nahrung zu sich nehmen und sich dabei filmen. Die Vi­deos wurden ursprünglich von Einzelpersonen live übertragen und verfügten über eine Chatfunktion, die es dem Publikum ermöglichte, in Echtzeit mit dem Host und anderen Zuschau­enden zu kommunizieren. Seit 2014 haben sich die Mukbang- Videos zu einem weltweit bekannten Phänomen entwickelt (Strand, Gustafsson 2020, Sanskriti et al. 2023). Nicht nur in asi­atischen Ländern wie Südkorea, Indonesien oder auf den Phil­ippinen suchen YouTube-Nutzer nach Mukbang-Inhalten, auch in Norwegen, Neuseeland, Schweden, Australien, den USA, Ka­nada, den Niederlanden und im Vereinigten Königreich sind die Videos beliebt (GoogleTrends 2023). Sie haben in den letz­ten Jahren hohe Followerzahlen erlangt, nicht zuletzt durch die Tatsache, dass „Food“ YouTubes beliebteste Kategorie war und ist (Maj 2018). Mukbang-Größen wie Zach Choi haben 24 Milli­onen Follower; sein beliebtestes Video wurde 86 Millionen Mal aufgerufen (YouTube 2023).

Ursprung der Mukbang-Formate

Gemeinsame Mahlzeiten haben in der koreanischen Kultur einen ho­hen Stellenwert. Dies spiegelt sich auch in der koreanischen Spra­che wider: Der Begriff „ “ (sik-gu) lässt sich sowohl als „Familie“ als auch als „Menschen, die sich nahestehen und gemeinsam essen“ übersetzen. Im Kontext der kollektivistischen koreanischen Gesell­schaft stärkt das gemeinsame Essen das Gefühl, Teil einer größeren sozialen Einheit zu sein und von dieser akzeptiert und unterstützt zu werden. Doch wie in Europa vollzieht sich auch in Ostasien ein gesell­schaftlicher Wandel: So war es in der Vergangenheit üblich, dass ko­reanische Familien in Mehrgenerationenhaushalten zusammenleb­ten. Mit der raschen Urbanisierung und dem wirtschaftlichen Wachs­tum Südkoreas veränderte sich diese Tradition. Der Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und Privatsphäre wuchs. Vor allem die jüngere Generation strebte danach, einen ei­genen Haushalt zu gründen und Bildungs- und Karrieremöglichkei­ten in städtischen Gebieten wahrzunehmen. Mittlerweile leben mehr Menschen allein oder in kleineren Haushalten als in traditionellen Großfamilien (KOSIS 2020). In der Folge hat sich auch das Essverhal­ten verändert. Traditionell werden in ostasiatischen Ländern wie Ko­rea, Japan und China viele verschiedene Gerichte in der Mitte des Ti­sches platziert, von denen sich alle bedienen können. Die Vielfalt an Farben, Gerüchen, Geschmacksrichtungen und Texturen macht das Essen zu einem Erlebnis. Doch heute entscheiden sich viele Alleinle­bende für einfachere Mahlzeiten, die weniger Zeit und Mühe bei der Zubereitung erfordern. Lange Arbeitszeiten und die Erwartung der Arbeitgeber, auch nach Feierabend noch mit Kolleginnen und Kolle­gen zusammenzusitzen, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, re­duzieren die Freizeit auf ein Minimum und damit auch die Möglich­keit, nährende freundschaftliche oder familiäre Kontakte zu pflegen (OECD 2019). Ursprünglicher Zweck der Mukbang-Videos war es, Ge­fühle der Einsamkeit und Isolation zu reduzieren, die aus der neu­en Lebensweise folgten: Die Zuschauenden konnten ihre Mahlzei­ten einnehmen, während sie zeitgleich den Streamenden beim Es­sen zusahen und sich mit ihnen und anderen Fans via Live-Chat aus­tauschten (Strand, Gustafsson 2020, Kircaburun et al. 2020, Sanskriti et al. 2023).

Für Menschen, die alleine leben, aber auch für Personen, die auf­grund beruflicher oder schulischer Verpflichtungen begrenzte Mög­lichkeiten zur Pflege persönlicher Beziehungen haben, können durch die Videos eine Art virtuelles Gemeinschaftserlebnis schaffen und dabei offenbar kulinarischen Genuss in den Alltag integrieren (Kircaburun et al. 2020, Sanskriti et al. 2023).

Mukbang im Wandel

Obwohl Mukbang-Videos im klassischen Live-Streaming-Format noch existieren, werden die meisten Inhalte heutzutage aufgezeichnet und anschließend über YouTube oder TikTok verbreitet (Strand, Gustafs­son 2020). Mit dem Übergang vom Live-Streaming zu aufgezeichne­ten Inhalten trat das Element der Interaktivität deutlich in den Hinter­grund. Auch die in den Videos gezeigten Portionsgrößen haben sich seitdem stark verändert (YouTube 2020). Mit zunehmender Populari­tät des Genres wurde ersichtlich, dass sich die Zuschauenden vor al­lem für das Verschlingen außergewöhnlich großer Nahrungs- und Ka­lorienmengen und für den Verzehr besonders scharfer Lebensmittel begeistern. Essgelage, bei denen die Zeit gestoppt und entsprechend „geschlungen“ wird, sind signifikant beliebter als Videos, in denen sich die Mukbanger Zeit lassen (Kang et al. 2020). Die Gründe dafür wurden bis dato nicht näher untersucht. Studienergebnisse zu ähn­lichen medialen Formaten eröffnen möglicherweise Begründungszu­sammenhänge (Rubenking, Lang 2014).

Gründe der Popularität

Wer die Kommentare unter Mukbang-Videos liest, stellt fest, dass selbst Personen, die sich beim Anblick der Bilder ekeln, oft den Blick nicht abwenden können (vgl. www.youtube.com watch?v=Y35yPXtJbp4 ) Mit diesem Phänomen sind viele - Horrorvi­deos und Stuntvideos aus dem Jackass-Franchise sei Dank - wohl ver­traut (Rubenking, Lang 2014).

Neugier und Sensationslust

Horrorfilme und Stunts der Anfang der 2000er-Jahre beliebten Fernsehsendung Jackass haben eines gemeinsam: Sie zeigen Blut, Fäkalien, Erbrochenes oder blutige Verletzungen und spielen be­wusst mit den Emotionen der Zuschauenden, insbesondere mit Angst und Ekel. In einer 2014 veröffentlichten Studie gingen Ru­benking und Lang den Ursachen der Popularität auf den Grund. Ihr Erklärungsansatz: Wenn unsere Vorfahren Ekel empfanden, et­wa weil sie sich mit Blut, Krankheit, Leichen oder Fäkalien konfron­tiert sahen, dann waren Angst und Ekel in einer Welt ohne moder­ne medizinische Versorgung und Antibiotika die Emotionen, die da­zu beitrugen, das eigene Überleben zu sichern. Die Reaktion, sich von dem ekelerregenden Objekt fernzuhalten, es gleichzeitig aber nicht zu ignorieren, um die von ihm potenziell ausgehende Gefahr besser einschätzen zu können, war also sinnvoll (Rubenking, Lang 2014). Vielleicht trägt diese evolutionär gefestigte Reaktion heutzu­tage dazu bei, dass so viele Menschen, allem Ekel zum Trotz, den Blick nicht abwenden können, wenn Mukbanger lautstark schlür­fend und schmatzend einen Berg extrem scharfer Nudeln oder rie­siger, roher Oktopusarme verschlingen. Auch das Gefühl der Angst­lust mag hier eine Rolle spielen: die Schärfe und der damit verbun­dene Schmerz, die riesigen Portionen und das damit verbundene extreme Völlegefühl oder die Ungewissheit, wie es einem nach dem Verzehr noch zappelnder Weichtiere ergeht.

Besondere Sinnesreize

Viele der populärsten Mukbang-Videos beinhalten ASMR-Elemente. ASMR steht für „Autonome sensorische Meridianreaktion“ und be­zeichnet ein angenehmes Gefühl, das manche Menschen in Reakti­on auf bestimmte Sinnesreize empfinden. Diese können akustischer Natur sein, zum Beispiel ein Flüstern, Kauen, Schmatzen oder Schlür­fen des Hosts. Ähnlich können optische Reize wirken, etwa glitzern­de oder glänzende Speisen und Lebensmittel in ungewöhnlichen For­men oder Farben. ASMR wird oft als kribbelndes Gefühl beschrieben, das auf der Kopfhaut beginnt und sich über den Nacken und die obe­re Wirbelsäule nach unten fortsetzt. Beim Zuschauenden löst diese Wahrnehmung typischerweise Wohlbefinden und Entspannung aus (Anjani et al. 2020, Kircaburun et al. 2020, Sanskriti et al. 2023, Strand, Gustafsson 2020).

Unterhaltung und Information

Eine besondere Kategorie der Mukbang-Videos sind die sogenannten Storytime-Mukbangs. Sie wollen einen besonderen Unterhaltungs-und Informationswert bieten. Dazu berichtet der Mukbanger wäh­rend des Essens zum Beispiel von persönlichen Erfahrungen oder diskutiert das Weltgeschehen. Häufig handelt es sich um Promi-News (vgl. www.youtube.com/watch) oder Kriminal­fälle (vgl. (www.youtube.com/watch). Andere Mukbanger reisen um die Welt, um vor Ort lokale Spezialitäten zu probieren. Sie teilen Fakten über die Gerichte, deren Geschichte und Zubereitung und damit verbundene Traditionen. Mitunter empfehlen sie landestypische Restaurants, Märkte oder Straßenstände.

Stellvertretendes Essen und Essstörungen

Menschen, die selbst hungern, beschäftigen sich oft intensiv mit dem Essen, zum Beispiel indem sie Rezepte sammeln, sich Kochsendun­gen ansehen oder Mahlzeiten für Freunde und die Familie zuberei­ten, ohne selbst davon zu essen (Crisp et al. 1980, Strand, Gustafsson 2020). Navigiert man durch die Kommentare der Mukbang-Fans, fällt auf, dass viele ihre eigene Nahrungsaufnahme bewusst einschrän­ken, entweder zum Beispiel im Rahmen einer Diät, aufgrund einer religiösen Fastenzeit oder einer Essstörung. Einige Zuschauende er­klären, dass sie „stellvertretend essen“, indem sie die Mukbanger bei der Nahrungsaufnahme beobachten und dadurch das Gefühl haben, selbst nicht essen zu müssen (Strand, Gustafsson 2020). Den Äußerun­gen zufolge geht dieses Empfinden oft mit einem Gefühl von Stolz und Überlegenheit einher (Übersicht 1). Der Wunsch „stellvertretend zu essen“ ohne Gewicht zuzunehmen, scheint die am weitesten ver­breitete Motivation für das Ansehen von Mukbang-Inhalten zu sein (Hakimey, Yazdanifard 2015, Gillespie 2019, Choe 2019, Kircaburun et al. 2020). Andere Nutzer geben an, dass sie sich durch den Anblick der übergroßen Essensmengen und der Art und Weise, wie diese verschlungen werden, gezielt selbst den Appetit verderben (Strand, Gustafsson 2020). Das scheint besonders häufig der Fall zu sein, wenn es sich bei den Mukbang-Hosts um übergewichtige Menschen han­delt (Reddit 2018). Beim Anblick einer adipösen Person, die vor lau­fender Kamera einen Essanfall auslebt, sieht sich eine anorektische oder bulimische Person offenbar in ihrer Selbstwahrnehmung bestä­tigt („Wenn ich esse, werde ich dick“) und konfrontiert sich dabei mit ihren größten Ängsten: dem Kontrollverlust und einer Gewichtszu­nahme. Das Video dient in diesem Fall als abschreckendes Beispiel (Reddit 2020).

Essrealitäten

Wie viele Mukbanger selbst von einer klinisch relevanten Essstörung im Sinne einer Binge-Eating-Störung, einer Bulimia nervosa oder ei­ner Anorexia nervosa vom Purging-Typ betroffen sind, ist wissen­schaftlich nicht untersucht. Wenn jedoch eine Person regelmäßig innerhalb kürzester Zeit zehn- oder fünfzehntausend Kalorien auf­nimmt, liegt es nahe, dass sich langfristig ein gestörtes Essverhalten entwickelt oder bereits vorliegt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Essanfall im Geheimen stattfindet oder für ein Millionenpub­likum aufgezeichnet wird. Auffällig ist allerdings, dass viele, vor allem weibliche Mukbanger sehr schlank sind. Zwar können Faktoren wie Stoffwechsel, genetische Disposition und Lebensstil im Einzelfall da­zu beitragen, dass sich trotz wiederholter höchstkalorischer Essanfäl­le keine Gewichtszunahme einstellt, es ist jedoch anzunehmen, dass zumindest einige der Hosts weitere Maßnahmen ergreifen, um eine Gewichtzunahme zu vermeiden. Dazu gehören technische Mittel wie das Schneiden und Editieren der Videos, um mehrere Mahlzeiten so aussehen zu lassen als wäre es eine oder der Einsatz von Perspektive und Filtern, um die Portionen größer erscheinen zu lassen. Nicht aus­schließen lässt sich zudem, dass aktive Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wie sie im Rahmen einer Essstörung typisch sind, darunter das Ausspucken der Nahrung vor dem Hinunterschlucken, kompen­satorisches Erbrechen, Fasten, exzessive Bewegung oder der Miss­brauch von Laxantien oder Diuretika.

Gefährliche Glorifizierung

Dass Mukbang-Videos das Essverhalten ihrer Zielgruppe beeinflus­sen, liegt nahe. So etwa konnten von Ash et al. (2023) einen positiven Zusammenhang zwischen Essstörungssymptomen, vor allem Binge Eating und Purging-Verhalten, und einem intensiven Mukbang-Video- Konsum zeigen. Sie stellten zudem fest, dass Testpersonen mit einer höheren Unzufriedenheit in Bezug auf den eigenen Körper häufiger Mukbang-Videos ansehen (von Ash et al. 2023). Das ist angesichts der Inhalte im Kommentarbereich der Videos besorgniserregend: Wäh­rend schlanke bis untergewichtige Mukbanger für ihre Essvorführun­gen gepriesen und bewundert werden und zahlreiche Komplimente zu ihrem Aussehen erhalten, werden übergewichtige Mukbanger für das gleiche Verhalten oft heftig kritisiert, beschimpft oder verhöhnt (Strand, Gustafsson 2020) (Übersicht 2). Diese stigmatisierende und oberflächliche Bewertung von Menschen allein nach ihrem Aussehen und Gewicht trägt zur Diskriminierung übergewichtiger Personen bei und kann zu einer verminderten Selbstachtung, einem gestör­ten Körperbild und psychischen Erkrankungen führen oder diese ver­stärken. Gleichzeitig betont die übermäßige Bewunderung schlanker Mukbanger unrealistische Schönheits- und Körperideale und erhöht so den Druck, insbesondere auf junge Zuschauende, diesem Ideal zu entsprechen (Mingoia et al. 2017, Saiphoo, Vahedi 2019, Markey, Dani­els 2022). Menschen mit einer bereits bestehenden Körperschemas­törung oder Essstörung können so in ihrer verzerrten Wahrnehmung verharren und sich dazu veranlasst fühlen, (noch weiter) in ungesun­de Ess- oder Verhaltensweisen abzugleiten (Groesz et al. 2002, Grabe et al. 2008, Ferguson 2013).

Auswertungen von Kommentaren zu Mukbang-Videos zeigen, dass einige Menschen sich durch die Videos zu einem Mehrkonsum von Lebensmitteln veranlasst sehen (Übersicht 1). Auch das ist eine nachvollziehbare, jedoch gesundheitlich ungünstige Reaktion, da die Videos übergroße Portionen normalisieren und zum Nachahmen er­mutigen. Sie präsentieren Völlerei als lustvolle und entspannende Ak­tivität, ohne unabwendbare unangenehme Konsequenzen zu thema­tisieren.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass der regelmäßige Konsum von Mukbang-Videos die Wahrscheinlichkeit übergewichtig zu sein oder zu werden, um etwa 7,5 Prozent erhöht (Yeon 2023).

Die Tatsache, dass manche Personen nach dem Konsum von Muk­bang-Videos ein geringeres Bedürfnis verspüren zu essen, während andere erst recht essen wollen, scheint widersprüchlich zu sein. Ver­mutlich lassen sich die gegensätzlichen Motivationen und Reaktionen auf individuell unterschiedliche Hirnreaktionsprofile zurückführen: Manche Menschen können dem Anblick appetitlicher Lebensmittel problemlos widerstehen, während andere sie unwiderstehlich fin­den. So konnten Versace et al. in ihrer 2019 veröffentlichten Studie zeigen, dass manche Menschen auf Essensreize mit einer stärkeren Hirnaktivität reagieren als auf erotische Bilder und in Folge mehr als doppelt so viel essen wie die Menschen, bei denen die neurophysio­logischen Reaktionen anders sind (Versace et al. 2019).

Gesundheitsrisiken durch Mukbang

Essanfälle können sowohl kurz- als auch langfristige Folgen haben. Akute Symptome wie ein postprandiales Völlegefühl, Übelkeit, gast­roösophagealer Reflux, Bauchschmerzen, Flatulenz, Diarrhöe oder Obstipation können unmittelbar nach dem Essanfall auftreten (Sa­to, Fukudo 2015, Chami et al. 1995, Wang et al. 2014, Boyd et al. 2005, Cremonini et al. 2009). Langfristig können wiederholte Essanfälle zu einer Gewichtszunahme führen, aus der sich auch eine Adipositas entwickeln kann (Udo, Grilo 2018, McCuen-Wurst et al. 2018, Agüera et al. 2021). Starkes Übergewicht geht bekanntermaßen mit einem er­höhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hormon- und Stoff­wechselstörungen, Typ-2-Diabetes, arterieller Hypertonie und weite­ren gesundheitlichen Problemen einher (Afshin et al. 2017, Zorena et al. 2020, Kloock et al. 2023). Darüber hinaus können Essanfälle bei­spielsweise zu gestörter Magen-Darm-Motilität, verzögerter Magen­entleerung und Magenruptur mit potenziell tödlichem Ausgang füh­ren. Ebenfalls beschrieben wurden Magendilatationen mit Perfora­tion nach Essanfällen bei Anorexia nervosa (Purging-Typ), Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung mit (Saul et al. 1981; Sinicina et al. 2005; Watanabe et al. 2008; Hattori et al. 2008; Kim et al. 2009; di Lu­ca et al. 2018; Swed et al. 2022; Han et al. 2022) oder ohne Todesfolge (Willeke et al. 1996; Nakao et al. 2000; Han et al. 2022). Das Risiko einer Magenruptur mit Todesfolge besteht auch bei isolierten Essanfällen (Cioffi et al. 2022). Aktive Gegenmaßnahmen wie kompensatorisches Erbrechen oder der Abusus von Laxantien oder Diuretika können au­ßerdem schwere Hypokaliämien hervorrufen, die wiederum potenzi­ell tödliche ventrikuläre Tachyarrhythmien nach sich ziehen können (Ravaldi et al. 2003; Facchini et al. 2006; Finsterer, Stöllberger 2014; Hsu et al. 2021; Mehler et al. 2022).

Gegenmaßnahmen

Bis dato wurde nur wenig unternommen, um die Verbreitung von Mukbang-Videos zu unterbinden. Im April 2023 kündigte Dr. Garth Graham, Direktor von YouTube Health, an, dass die Plattform zukünf­tig ihre Regeln für Inhalte, die zum Nachahmen von essgestörtem Verhalten ermutigen könnten, verschärfen werde. Konkret bezog er sich auf Videos, „die ein gestörtes Essverhalten zeigen“ wie das „Er­brechen nach dem Essen oder eine massive Einschränkung der Ka­lorienzufuhr“ (Graham 2023). Videos, die einen „hinreichenden […] künstlerischen Kontext aufweisen“, sollten jedoch nur eine Altersbe­schränkung erhalten. Daher ist davon auszugehen, dass die profita­blen Mukbang-Videos von der strengeren Regulierung nicht betrof­fen sein werden. China hat im Rahmen seiner Kampagne gegen Le­bensmittelverschwendung einen anderen Weg eingeschlagen und beschlossen, Völlerei in der Öffentlichkeit und in den sozialen Me­dien zu verbieten. Das betrifft auch das Angebot chinesischer Muk­bang-Videos. Nach dem neuen chinesischen Gesetz können Medi­enplattformen, die Inhalte von Menschen verbreiten, die sich über­essen oder die Lebensmittel verschwenden, mit Geldstrafen von bis zu 100.000 chinesischen Yuan (ca. 12.680 Euro) belegt werden (NPC 2021). Als Folge wurden bereits Tausende Mukbang-Konten geschlos­sen und zahlreiche Videos von den Social-Media-Plattformen Douyin und Weibo entfernt.

Für Personen, die regelmäßig Mukbang-Videos ansehen, ist es rat­sam, die Beweggründe für den eigenen Konsum zu hinterfragen und zu reflektieren, ob die Inhalte ihre geistige und physische Gesundheit fördern oder ihr eher schaden. Eltern und therapeutischem Fachper­sonal sei geraten, sich der potenziell triggernden Wirkung von Muk­bang-Videos bewusst zu sein, um den Umgang mit solchen Inhalten mit ihren Kindern und Klienten reflektieren zu können.

Dass die Nutzung sozialer Netzwerke bei Jugendlichen und jungen Er­wachsenen positiv mit essgestörtem Verhalten und einem negativen Körperbild assoziiert ist, weiß man bereits seit einigen Jahren (Wilksch et al. 2020, Rounsefell et al. 2020). Schulen sollten im Unterreicht aktiv über die Wirkungen ernährungsbezogener Social-Media-Inhalte auf­klären und dabei nicht nur Diättipps und Clean-Eating-Trends, son­dern auch Mukbang-Inhalte thematisieren.

Fazit

Mukbang-Fans schauen sich die Inhalte der einschlägigen Videos aus unterschiedlichen Gründen an. Während manche Gefühle von Ein­samkeit reduzieren oder unterhalten werden wollen, nutzen ande­re, teilweise unter Essstörungen leidende Menschen, die Inhalte, um sich absichtlich den Appetit zu verderben oder Genuss und Sättigung zu erfahren, ohne selbst zu essen (Hakimey, Yazdanifard 2015, Gille­spie 2019, Choe 2019, Kircaburun et al. 2020).

Mukbang-Videos haben weltweit einen großen Bekanntheitsgrad erlangt (Strand, Gustafsson 2020, Sanskriti et al. 2023, GoogleTrends 2023). Da die Inhalte heutzutage vorrangig über YouTube und Tik­Tok verbreitet werden, erreichen sie vor allem Millenials (Geburts­jahre 1981–1996) und die Generation Z (Geburtsjahre 1997–2012). Während Millenials ihren Food-Content vorrangig über YouTube be­ziehen, erreicht TikTok vor allem die Folgegeneration (Statista 2022, Statista 2023). Diese ist aufgrund ihres jungen Alters besonders vul­nerabel hinsichtlich der Entwicklung von Essstörungen (Udo, Grilo 2018). Mukbang-Videos, die den Verzehr normaler Portionsgrößen zeigen, können tatsächlich unterhalten, informieren und womöglich ein Gefühl von Geselligkeit generieren (Hakimey, Yazdanifard 2015, Spence et al. 2019, Choe 2019). Videos, in denen die Streamenden da­gegen übermäßige Essmengen konsumieren, verharmlosen dagegen aller Wahrscheinlichkeit nach ein gestörtes Essverhalten. Solche ge­planten und vor der Kamera inszenierten Essattacken können un­gesundes und essgestörtes Verhalten fördern und weiter verbreiten (Bruno, Chung 2017, Donnar 2017, Hong, Park 2018, Park 2018, Shipman 2019, Spence et al. 2019, Kircaburun et al. 2020, Kim et al. 2021, Wu et al. 2023).

Vor allem staatlich geförderte Institu­tionen und Bildungseinrichtun­gen in unserer Gesellschaft tragen mit Verantwortung dafür, ein Bewusst­sein für problematische Inhalte in den Social Media, zum Beispiel auch in Muk­bang-Videos, zu schaffen und sich für umfassende Regulierungen, Aufklä­rungs-, Bildungs- und Unterstüt­zungsmaßnahmen stark zu machen.

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