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Aus der Erkenntnis, dass jeder Mensch einzigartig ist und individuell handelt, folgt die Überlegung: Wie wäre es, wenn wir in der Ernährungsberatung mehr „Extrawürste“ braten?

Kzenon / stock.adobe.com

Eine „Extrawurst“ gebraten zu bekommen hat zwei Bedeutungsebenen: Sie bezeichnet in einer bildhaften Sprache, dass eine einzelne Person etwas anderes essen möchte als die Allgemeinheit. Dafür kann das Individuum durchaus gute Argumente haben. Schließlich verträgt nicht jeder Mensch jedes Lebensmittel gleich gut. Auf einer zweiten Bedeutungsebene hat die Extrawurst viel mit sozialer Schichtung zu tun: die Extrawurst einzufordern muss man sich leisten können, eine Extrawurst gebraten zu bekommen ist eine Form sozialer Anerkennung. Welche soziologischen Determinanten beeinflussen eigentlich die Ernährung und was resultiert für die Ernährungsberatung daraus?

Das Modell der individuellen Beratung nach Ajzen

Menschliches Verhalten erklären, voraussagen und beeinflussen zu wollen, spielt nicht nur in der Ernährungsberatung eine zentrale Rolle, sondern genauso im Gesundheitswesen, in der Altersvorsorge, der Werbung oder der Wahlforschung. Gerade im Bereich Ernährung und Gesundheit haben wir es mit schwach determinierten Zusammenhängen zu tun, die über Jahrzehnte hinweg wirken können. Qualifizierte Ernährungsberatung kann also keineswegs von Ad-hoc-Korrelationen ausgehen. Selbst wenn die Fallzahlen noch so hoch sind, sollte sich die Beratung auf eine etablierte Theorie stützen (Hecht, Hribernik 2008).

Ausgangspunkt ist deshalb die „Theorie des geplanten Verhaltens“ von Ajzen et al. (Ajzen, Madden 1986; Ajzen 1991; Ajzen, Fishbein 2005). Diese Theorie ist seit Jahrzehnten in Anwendungsfeldern wie Gesundheit und Ernährung, finanzieller Vorsorge, Didaktik der Alltagskompetenzen, Umwelthandeln, Marketing und Politikwissenschaften etabliert (vgl. für den deutschsprachigen Raum Schwarzer 1996; Diekmann, Preisendörfer 1992; Lach 2003; Rataj 2007).

Die Handlung eines Individuums wird in Ajzens Pfad-Modell durch eine entsprechende Handlungsintention ausgelöst (Abb. 1). Die Handlungsintentionen bilden sich im Zusammenspiel von Einstellungen, Normen und Selbstwirksamkeitserwartungen aus. Diese erwachsen wiederum aus Erlerntem, der Persönlichkeit und dem sozialen Milieu, in dem jemand lebt. Sie stellen die drei Pfeile dar, die in Abbildung 1 von den Hintergrundfaktoren nach rechts zu den Einstellungen, Normen und Selbstwirksamkeitserwartungen weisen.

Einstellungen. Diese bringen subjektiv getönte Haltungen zum Ausdruck, etwa wie wichtig einem Individuum das gesundheitliche Wohlbefinden, genussvolles Essen oder sportliche Aktivitäten sind.

Normen. Sie haben einen allgemeineren Charakter, wie Lebensbejahung oder Altruismus.

Selbstwirksamkeitserwartungen. Diese betreffen das persönliche Vertrauen darauf, gute Vorsätze auch verwirklichen zu können.

Man kann zum Beispiel voll und ganz davon überzeugt sein, dass einem zwei Wochen fasten vor Ostern guttäte, macht es dann aber doch nicht, weil man fürchtet, es ohnehin nicht durchhalten zu können. Mangelnde Selbstwirksamkeitserwartungen können reale Grundlagen haben. Wer häufig geschäftlich essen gehen muss oder mit einem Feinschmecker zusammen lebt, wird es schwerer haben zu fasten als jemand, der ohnehin bei der Arbeit wenig Zeit zum Essen hat. Doch auch Selbstwirksamkeitserwartungen sind nicht allein eine Sache subjektiver Willensstärke. Sie können realen Beschränkungen (Selbstwirksamkeitsrestriktionen) unterliegen. So können etwa Kinder ihre Ernährung nicht umstellen, solange ihre Eltern die Einkaufsgewohnheiten für den Haushalt nicht ändern. Das drückt die gestrichelte Barriere in Abbildung 1 aus.

Die Ernährungsberatung hat seit den 1970er-Jahren zunächst einmal auf Informationsvermittlung gesetzt: Gesundheitsbildung, Ärzteschaft, Krankenkassen und Verbraucherpolitik (z. B. Jaquemoth, Hufnagel 2018) haben hauptsächlich „Informationskampagnen“ mit Broschüren und Kursen gefahren. Heute ist eine Vielzahl von Online-Auftritten vom Gesundheitsministerium bis zu selbsternannten Influencerinnen und Influencern hinzugekommen. Spätestens zur  Jahrtausendwende wurde freilich klar, dass Information allenfalls notwendig, aber nicht hinreichend für tatsächliche Verhaltensänderungen ist. Die wissenschaftliche Diskussion, Forschung und Didaktik begannen, sich auf Selbstwirksamkeit und Verhaltenskontrolle zu fokussieren (z. B. Schwarzer, Jerusalem 2002). Dazu zählen auch die Hausse der Parole „Resilienz“ (etwa Wustmann 2005) und die Kampagne „Kinder stark machen“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Durch diese Kampagne werden Kinder in ihrer Selbstwirksamkeit bestärkt, indem zum Beispiel eingeübt wird, „Nein“ zu sagen.

So wichtig und immer noch aktuell solche Aktivitäten sind, lassen sie doch die soziologischen Faktoren für das Ernährungshandeln außer Acht. Gleichzeitig ist ohne Information und ohne enge und fortwährende Berücksichtigung der Ernährungspsychologie qualifizierte Ernährungsberatung undenkbar (vgl. Klotter 2020).

Entwicklung der Sozialstrukturanalyse

Die „Sozialstrukturanalyse“ gilt als Königsdisziplin der Soziologie. Hilfreich für ihr Verständnis ist es, sich Kernbegriffe wie „Klasse,“ „Schicht“ und „Milieu“ in ihrer historischen Genese bewusst zu machen (z. B. Butterwegge 2020; Geißler 2014; Huinink, Schröder 2019). Noch im 19. Jahrhundert sah man vor allem die vertikale Struktur der Gesellschaft, die „Stände“ und die „Klassen“. Dies galt sowohl für die „sozialistischen Klassiker“ wie Marx, Engels, Lasalle oder Kautsky als auch für ihre „bürgerlichen“ Pendants wie Weber oder Simmel.

Klassen. Klassen sind durch relativ einheitliche Lebensverhältnisse gekennzeichnet und besitzen eine geringe Durchlässigkeit.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich allerdings, dass sich – anders als vielfach vorausgesagt – die Klassengegensätze nicht verschärften, sondern sich die Lebensverhältnisse verbesserten, die Lebenschancen wuchsen und sich die Klassen oder Stände diversifizierten.

Schicht. In den 1920er-Jahren legte der Soziologe Theodor Geiger das Konzept der „Schicht“ vor. Auch hier bleibt das Oben und Unten unbestritten, gleichzeitig werden das Differenzierende und der gesellschaftliche Wandel deutlicher hervorgehoben.

Sowohl „Klasse“ als auch „Schicht“ fassen Menschen in ähnlicher sozio-ökonomischer Lage zusammen. Ähnliche Lebenserfahrungen, -chancen und -risiken stiften ähnliche Persönlichkeitsmerkmale.

Persönlichkeitsmerkmale. Dazu zählen psychische Dispositionen, Einstellungen, Wertorientierungen, Bedürfnisse, Interessen, Mentalitäten, Lebensstile, Kultur und Subkultur.

Stärker als die Schichttheorie betont die Klassentheorie ökonomische Gegebenheiten, Macht und Konflikt, historische Entwicklungen und theoretische Begründungen. Die Schichttheorie reagierte darauf, dass die Sozialstruktur am Ende des 19. Jahrhunderts nicht einfacher, sondern differenzierter geworden war. Die Mittelschicht war keinesfalls zerrieben worden, sondern hatte neue Funktionen übernommen. Die Arbeiterschaft selbst differenzierte sich nach Qualifikation und Entlohnung. Klassenkonflikte flauten ab, die Idee einer Sozialpartnerschaft entwickelte sich. Quer zu den Klassenstrukturen sah man nun auch andere Unterschiede wie Stadt-Land, Männer-Frauen, Jung-Alt, Produzierend-Nichtproduzierend.

Im „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen Wohlstand und Aufstiegschancen. Man sah sich am Ende der sozialen Konkurrenz und verkündete triumphierend den Anbruch der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky 1954; Dahrendorf 1965). Man sprach von einer hochmobilen Sozialstruktur, in der Auf- und Abstiegsprozesse Klassenstrukturen einebnen. So sei eine breite Mittelschicht mit gleichen politischen Rechten und ähnlichen materiellen Lebensbedingungen entstanden: die Konsumgesellschaft. Relativ einheitliche mittelschichtspezifische Einstellungen und Normen dominierten.

Doch die Geschichte bleibt nicht stehen. Die 1968er-Bewegung bewirkte eine Renaissance der kritischen Soziologie der Frankfurter Schule, es folgten die Erstarkung des Feminismus, Naturismus oder Antiautoritarismus. Schritt für Schritt wurde die Gesellschaft „bunter“, wie man es Ende der 1970er-Jahre ausdrückte. Die prominenteste und nachhaltigste Reaktion auf die „Pluralisierung“ der Gesellschaft war die Entwicklung der Sinus-Milieus ab Ende der 1970er-Jahre (Hartmann 1999; Barth et al. 2018).

Sinus-Milieus. Bei diesem Ansatz treten an Stelle der eindimensionalen Analyse mit oberen, mittleren und unteren Schichten „Milieus“ auf einer horizontalen Ebene (Abb. 2).

Auf der Ordinate ist nach wie vor die Schichten-Hierarchie abgebildet. Auf der Abszisse wird die Werteorientierung als Ebene mit zehn Milieus dargestellt. Diese reicht von „traditionell“ über „modern“ zu „erkundend“. Die Milieuzugehörigkeit einzelner Bevölkerungsteile ist prozentual aufgeschlüsselt. Stellvertretend für „Milieu“ fällt oft der Begriff „Lebensstil“. Das findet seine Berechtigung darin, dass die Kategorisierung des Sinus-Instituts Methoden der hermeneutischen und quantitativen Sozialwissenschaft kombiniert (Flaig, Barth 2018). Gemeint ist damit, dass die Milieus sowohl auf der Basis von qualitativen Interviews als auch mithilfe des komplizierten statistischen Verfahrens der „Clusteranalyse“ entstehen. „Lebensstil“ ist dabei ein Erbe der „verstehenden“ Sozialwissenschaft, das sich auf Klassiker der Soziologie wie etwa Weber, Simmel oder Veblen zurückführen lässt (zum Thema Ernährung etwa Simmel 2016).

Stil. „Stil“ ist ursprünglich eine ästhetische Kategorie. Er bezeichnet das gemeinsame Vorkommen gewisser Merkmale an einem Objekt.

Max Weber und andere übertrugen das Konzept des Stils in die Sozialwissenschaften. Dort ist es beispielsweise als „Lebensstil“, „Haushaltsstil“, „Konsumstil“, „Freizeitstil“, „Wohnstil“ oder „Essstil“ zu finden. Wie in der Kunst erfolgte die Bestimmung der Stile zunächst anhand hermeneutischer Methoden. Unter einem „Lebensstil“ verstand Weber die von bestimmten Merkmalen charakterisierte Lebensweise von Gruppen, also die für eine bestimmte Gruppe typischen Verhaltensformen und Wertvorstellungen. Georg Simmel erklärte die Genese der Lebensstile aus dem Zwang, in den Metropolen der Moderne wieder einen Weg zur Individualisierung zu finden. Alfred Adler betonte den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Lebensstils mit der autonomen Gestaltung der eigenen Biografie. Thorstein Veblen deutete den Lebensstil als symbolische Demonstration einer erfolgreichen Lebensführung. Seit rund 30 Jahren erfolgt die Bestimmung von Stilen auch anhand aufwendiger statistischer Verfahren der numerischen oder automatischen Klassifizierung, der Clusteranalyse. Das allerdings reduziert sie keineswegs auf eine rein quantitativ-objektive Kategorie. Der ästhetisch-expressive Oberton der Klassiker schwingt noch immer mit, wenn der Begriff „Stil“ gebraucht wird.

Wie die Beschreibung der Milieus andeutet, korreliert die Abszisse auch mit dem Alter (Abb. 2): Die jüngeren Menschen sind eher in den progressiveren Milieus vertreten. Das hat nicht nur mit den biologischen und psychischen Folgen des Alters zu tun, sondern auch damit, dass die jetzt Älteren in der Nachkriegszeit sozialisiert wurden, die jetzt Jungen nach der Wiedervereinigung. Sinus-Milieus kommen unter anderem im Marketing zum Einsatz (Borgsted, Stockmann 2018). Auch den Konsum von Lebensmitteln betreffend konkurrieren sie mit Konstruktionen, die noch spezieller auf dieses Themenfeld ausgerichtet sind. Dazu zählen zum Beispiel der „Food-Related-Lifestyle-Ansatz“ (Grunert et al. 1993), die „Nielsen-Food-Studie“ oder die „Nestlé Ernährungstypen“.

Die zehn Sinus-Milieus

Konservativ-Etablierte
Das klassische Establishment mit Verantwortungs- und Erfolgsethik sowie Führungsansprüchen.

Liberal-Intellektuelle
Die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung, postmateriellen Wurzeln und starkem Versuch der Selbstentfaltung. Selbstbild als gesellschaftliches Korrektiv.

Performer
Multi-optionale, effizienz-orientierte Leistungselite, Konsum- und Stilavantgarde. Hohe Technik- und Digital-Affinität.

Expeditive
Ambitionierte kreative Avantgarde, gut vernetzt auf der Suche nach neuen Lösungen. Ausgeprägte Selbstdarstellungskompetenz.

Bürgerliche Mitte
Leistungs- und anpassungsbereiter bürgerlicher Mainstream, Wunsch nach sozialer Etablierung,Abstiegsängste. Sehnsucht nach alten Zeiten.

Adaptiv-Pragmatische Mitte
Die moderne junge Mitte mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nützlichkeitsdenken. Starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit.

Sozial-Ökologische
Engagiert, gesellschaftskritisch. Normative Vorstellungen vom „richtigen“ Leben. Umwelt- und klimasensibler Lebensstil.

Traditionelle
Ältere Generation, die Sicherheit und Ordnung liebt, dazu sparsam und bescheiden ist. Kommt in der modernen Welt zunehmend schlechter zurecht.

Prekäre
Unterschicht, die nach Teilhabe und Orientierung sucht. Gefühl des Abgehängtseins, Verbitterung und Ressentiments.

Hedonisten
Die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht. Angepasst im Beruf, will in der Freizeit den Zwängen des Alltags entkommen.

Flaig, Barth 2018

Sinus-Milieus in der Ernährungsberatung

Die Kenntnis von Zusammenhängen zwischen Sozialstruktur und „Essstil“ ist für die Ernährungsberatung auf mindestens vier Ebenen wichtig: der Ebene der Diagnose, der Zielgruppenansprache, der Wirkhypothesen und der Verhaltensänderung. Aus der Verwendung von Sinus-Daten in der Public-Health-Forschung ergeben sich einige Ansatzpunkte.

Diagnose

Das Gesundheitsverhalten ist umso günstiger und der Gesundheitszustand ist umso besser, je weiter man sich vom Nullpunkt des Koordinatensystems der Sinus-Milieus (Abb. 2) weg in Richtung Nord-Ost bewegt (etwa Merkle, Hecht 2011; Riedel 2018; Grünewald-Funk 2013; Mörixbauer et al. 2019).

Zielgruppenansprache

Wenn es signifikante Unterschiede im Gesundheitsverhalten der Milieus gibt, so kann es sinnvoll sein, diese Milieus in der Ernährungsberatung spezifisch anzusprechen. So etwa unterscheiden sich die Milieus unter anderem signifikant in ihrem Mediennutzungsverhalten: Die traditionellen, älteren Milieus nutzen noch selbstverständlich und weitverbreitet Medien wie Fernsehen, Radio, Zeitungen und Magazine, Bücher und Broschüren. Je jünger die Menschen sind, desto weniger nutzen sie die traditionellen Medien. Sie informieren sich über Internetformate wie Facebook, Youtube oder Instagram (Grossarth 2021; Mörixbauer et al. 2019; Dernbach 2021). Unterschiede im Mediennutzungsverhalten gibt es außerdem in Abhängigkeit der sozialen Zugehörigkeit. Bei den Tageszeitungen etwa steht am Boden der Hierarchie das Anzeigenblatt, die Boulevardzeitung, darüber die Lokalzeitung, an der Spitze finden sich zusätzlich die großen überregionalen Zeitungen aus Frankfurt, München und Hamburg. Bei der Internetnutzung schlägt sich die soziale Hierarche darin nieder, dass obere Schichten vermehrt auch eigene Beiträge ins Internet einstellen, statt nur Botschaften zu empfangen wie bei den klassischen Medien. Auch andere Kanäle der Verbraucherbildung wie Schulunterricht, Erwachsenenbildung, Verbraucherläden oder Informationsstände werden die verschiedenen Milieus in sehr unterschiedlichen Intensitäten erreichen.

Information ist allenfalls notwendig, keinesfalls aber hinreichend zur Änderung von Normen, Einstellungen, Intentionen oder Verhalten (Abb. 1). Dieses „Notwendig-aber-nicht-hinreichend“ gilt gleichermaßen für die richtige Wahl des Informationskanals und der Form der Zielgruppenansprache. Ernährungsberatung nach Milieus zu segmentieren bedarf mehr als einer kommunikationswissenschaftlichen Begleitung. Es bedarf Hypothesen und Fakten zu den Wirkmechanismen von Ernährungsberatung.

Wirkhypothesen

Die Sinus-Milieus skizzieren, wie sich zwischen Werteorientierungund einem durch Geld, Bildung und Macht bestimmten Oben und Unten eine Ebene auftut, in der sich Milieuzugehörigkeiten von traditionell bis progressiv auf horizontaler Ebene erfassen lassen. Ergänzend zu den Sinus-Lebensstilen entfaltet eine ähnlich gestaltete Konstruktion der „Essstile“ (Barlösius 2011) eine weitere Ebene (Abb. 3). Die Zusammenhänge zwischen sozialer Schicht und Essverhalten hatte Bourdieu (2021) in seinem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ beschrieben. Unteren Schichten attestiert er einen „Notwendigkeitsgeschmack“. Nahrhafte, geschmacksintensive, kostengünstige Speisen werden bevorzugt und in größeren Mengen ungezwungen genossen (zur Effizienz von Nahrungsmitteln vgl. Hufnagel 2021). Die Oberschicht frönt einem „Luxusgeschmack“. Sie konsumiert bevorzugt leichte, kalorienarme, teure Gerichte mit eher geringem Zubereitungsaufwand. Sie legt Wert auf die Form des Essens, auf Speisenfolgen, mäßige Mengen, Tischdekoration und -manieren. In der Mitte zwischen Notwendigem und Luxuriösem liegt ein „prätentiöser Essstil“. Das Maßhalten der Oberschicht wird kopiert, ohne dass aber Mittel für die Kosten des distinguierten Geschmacks der Oberschicht nachhaltig zur Verfügung stünden. Form und Selbstbeherrschung des „Luxusgeschmacks“ werden nachgeahmt, nicht aber der materiale Luxus. Das führt bei den Mittelschichten zu einer „asketischen Leerstelle“ (vgl. Barlösius 2011).

Der Naturismus erlebte eine erste Blüte als „Lebensreformbewegung“ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er reagiert kritisch auf die damalige Industrialisierung und Urbanisierung der Lebenswelten. Abgelehnt werden unter anderem Viehzucht sowie Genussmittelproduktion und -konsum. Manche Richtung scheut nicht davor zurück, apokalyptische Visionen zu verkünden, sollte die Menschheit nicht von ihrem modernen Lebensstil ablassen. Propagiert werden etwa eine vegetarische und vegane Ernährung, alternativer Landbau und alternative Medizin, Abstinenz und Temperenz, Naturehrfurcht und Tierliebe. Verheißen werden ein schlanker und gesunder Körper, eine soziale und glückliche Gesellschaft. Der Naturismus erfährt seit den 1970er-Jahren eine Renaissance (vgl. Barlösius 2011).

Hinsichtlich erwünschter oder zu bewirkender Verhaltensänderungen wäre zu überlegen, wie vor dem Hintergrund der Normen und Einstellungen, die ein Milieu prägen, und angesichts der Ressourcenausstattung, Verhaltensänderungen am leichtesten in Gang zu setzen sein könnten.

Zu erwägen wäre auch, ob es nicht am sinnvollsten wäre, das Milieu insgesamt zu wechseln. Bezüglich der Einstellungs- und Werteparameter oder der Selbstwirksamkeitserwartungen
ist das ein Fall individueller, sozialpsychologischer Zielsetzung. Was die sozioökonomischen Ressourcen betrifft, wäre ein sozialer Aufstieg durch Bildungs- und Berufserfolg möglich, aber auch durch großzügigere Sozialtransfers.

Thesen zur Ernährungsberatung

Aus den Abbildungen 1 bis 3 lassen sich einige wichtige Thesen zur Ernährungsberatung ableiten.

Information

Hinsichtlich des Hintergrundfaktors Information in Abbildung 1 ist erkennbar, dass der Bildungsgrad und damit die Informationsverarbeitungskapazität auf der Vertikalachse mit der Schichten-Hierarchie in den Abbildungen 2 und 3 nach oben hin steigt. Die höchste Bildungsaffinität dürfte dabei die obere Mittelschicht haben. Die Ansprache der Milieus muss das – etwa in Textgestaltung und Medienwahl – berücksichtigen (vgl. Mörixbauer et al. 2019; Dernbach 2021).

Selbstwirksamkeitserwartungen

Diese dürften ebenfalls in der aufstiegsorientierten oberen Mittelschicht am stärksten ausgeprägt sein. Die tatsächliche Selbstwirksamkeit müsste in der Oberschicht und der oberen Mittelschicht am größten sein, weil diese Schichten über die meisten Ressourcen wie Zeit und Geld verfügen. Diese ermöglichen es, Restriktionen, die sie an der Umsetzung von Intentionen hindern, zu umgehen.

Normen und Einstellungen

Die Werte-Achse, allgemein für die sozialen Milieus in Abbildung 2 und themenspezifisch für die „Essstile“ in Abbildung 3 dargestellt, verdeutlicht, dass der Sparsame anders für gesunde Ernährung zu gewinnen sein wird als der Leistungsorientierte und dieser wieder anders als der „Öko“.

Verhaltensänderung

Bei der Gestaltung der Ernährungsberatung wird das theoretische Wissen zusammen mit der praktischen Erfahrung der Beratungskraft kreativ zur Anwendung kommen müssen.

Milieuspezifische Beratung

Eine erste Nutzanwendung der in Abbildung 3 dargestellten Erkenntnisse ist die Ermittlung der kommunikativen Position in der Ernährungsberatung. In welchem der neun Felder steht die beratende Person, in welchem die Klientin oder der Klient? Die studierte Fachkraft wird sich meist in der oberen Mittelschicht verorten, also in den Feldern IV bis VI. Welche Werte sie vertritt, ist damit noch nicht festgelegt. Heute liegen oft ökologische Werte im Fokus, während die alten Sparsamkeitsideale an Relevanz verlieren (vgl. Hufnagel 2019).

Das untere Drittel der Gesellschaft tritt in der akademischen Ernährungsberatung fast nur als Ratsuchende auf, deren Ernährungsgewohnheiten man ermittelt. Aktive Stellungnahmen dieser Personengruppen tauchen allenfalls in der Analyse von Posts in den sozialen Medien auf (vgl. Bartelmeß 2021). Die Ansprache des oberen Drittels (Felder I bis III in Abb. 3) erfolgt über Themen wie Kulinarik und Prestige (etwa Fegebank 2013; Franz 2022).

Leistungsorientierte interessieren sich für Ernährung, Sport und Functional Food (etwa Eissing 2011; Bönnhoff 2011). Für sie kann die Warnung hilfreich sein, dass die Überschätzung der Selbstwirksamkeitserwartung zu Essstörungen wie Bulimie und Anorexie führen kann. Das naturistische Milieu interessiert sich für nachhaltige Ernährung, Vegetarismus und Veganismus sowie ferne Esskulturen. Beim Hinabsteigen in die Verästelungen oder gar Auswüchse des Naturismus kann sich eine spezifische Beratung als durchaus angebracht erweisen (Hufnagel 2021).

Dass sich das untere Stratum (Felder VI bis IX in Abb. 3) durch die geeignete Wahl von Medien, Bild- und Textgestaltung erreichen lässt, ist bekannt und erscheint durchaus machbar. Vor allem in der Schule sind Kinder, Jugendliche und Eltern gut erreichbar (vgl. Küppers-Hellmann et al. 2001). Als Kernproblem offenbaren sich hier die mangelnden Selbstwirksamkeitserwartungen, die sich nicht allein auf das Ernährungsverhalten beschränken, sondern sich als Spezialfall einer geringen Zukunftspräferenz erweisen. Geringe Zukunftspräferenz zeigt sich dann etwa auch im Umgang mit Finanzen oder in der Bildungsaspiration. Die geringen Selbstwirksamkeitserwartungen sind dabei freilich nicht nur psychologisches Datum, sondern eng mit tatsächlich geringerer Selbstwirksamkeit verwoben (Abb. 1). Tatsächlich geringe Selbstwirksamkeit rührt in der Regel daher, dass die unteren Schichten geringere Ressourcen an Geld-, Human- und Sozialkapital haben (etwa Kettschau et al. 2004). Ernährungsberatung bedarf hier eines umfassenden Ansatzes, der die schichtbedingten Handlungsrestriktionen immer mit im Blick hat. Anlässlich einer Fallstudie zur Ernährung unter Hartz-IV-Bedingungen führen Leclaire et al. (2009, S. 37) etwa aus, dass eine vollwertige Ernährung auf Basis der Regelsätze zwar möglich sei, freilich müsse sich der Einkauf dabei auf Discounter beschränken. Weiter müsse die Familie auf die Erfüllung von kleinen Extras etwa bei Bekleidung oder sozialer Teilhabe konsequent verzichten.

Ausblick

Es erscheint als gegeben, dass Ratsuchende der Ernährungsberatung in einem Milieu fest verortet sind. Man könnte sich freilich fragen, ob diese Annahme nicht zu sehr einschränkt. Es könnte ja auch ein sinnvoller Weg sein, Interessierte aus ihrem Milieu herauszuführen in eines, das mit einem günstigeren „Essstil“ korreliert. „Essstil“, Selbstwirksamkeit und Bildung wirken schließlich auf die soziale Lage zurück. Wer gesund isst und ist, kann mehr und länger Geld verdienen. Wer sparsamer ist und Bildung erwirbt, baut höheres Vermögen und höhere Erwerbschancen auf. Die Frage ist, wie man in diese zyklische Kausalität von Verhalten und sozialer Lage Dynamik bringen könnte. Oder anders ausgedrückt: wie sich eine Bewegung von links unten nach rechts oben in den Ebenen der Abbildungen 2 und 3 bewerkstelligen ließe.

Ein Ansatz könnte das seit einigen Jahren populäre „Nudging“ sein (z. B. Jaquemoth, Hufnagel 2018a). Ob und inwiefern solche kleinen „Stupser“ das Individuum dabei unterstützen, eine nachhaltige soziale Dynamik in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten, ist eine offene Forschungsfrage. Für ein tieferes Verständnis wäre eine Anwendung der Komplexitätstheorie auf die Genese von Essstilen notwendig. Entsprechende Ansätze liegen bis jetzt allerdings nur in allgemeiner Form für Haushaltsführungsstile vor (Hufnagel 2000, 2004, 2008).

Fazit

Es zeichnet sich ab, dass in diesem Jahr 2022 eine Zeitenwende eingeleitet worden ist. Weitverbreitete Vergnügungen wie Reisen sind unsicher geworden und werden ob ihres Ressourcenverbrauchs kritisch beäugt. Traditionelle Freuden wie „gut essen und trinken“ rücken wieder in den Fokus. Die Lebensmittelteuerungen, die wir in den letzten Monaten hinzunehmen hatten, machen erneut deutlich, dass Ernährungsberatung nicht nur der Gesundheit, der Körperästhetik oder der Nachhaltigkeit dient, sondern auch eine sozial-ökonomische Perspektive hat. Aus dieser Perspektive scheint es angezeigt, den schichten- und milieuspezifischen Aspekten von Ernährungsberatung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die relativ hohe Selbstwirksamkeit, die die obere Mittelschicht von sich erwartet, kann nicht unbedingtes Leitbild für die gesamte Gesellschaft sein. Um in unserem komplexen Gemeinwesen mitzukommen, müssen viele mit zweitbesten oder drittbesten Lösungen zufrieden sein. Wenn Ernährungsberatung hier genauer hinschauen und hilfreich sein will, so bedeutet das einen größeren Aufwand an Forschung und Transfer. Die Gesellschaft wird die Ressourcen dafür auf die eine oder andere Art zur Verfügung stellen müssen. Doch das Vergnügen, jedem eine – wenn auch nicht unbedingt leckere, so doch bekömmliche – „Extrawurst“ zu braten, sollten wir uns gerade in diesen Krisenzeiten gönnen.

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