Warum eigentlich Ernährungsstrategien?
„Wenn wir uns so ernähren wie bisher, werden wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen bald zerstört haben – und unsere Gesundheit noch dazu“, sagte Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir im Juni 2022. Denn die Trends weisen in die falsche Richtung: Die ernährungsbedingten Krankheiten nehmen zu, das Klima erwärmt sich weiter und das Artensterben schreitet voran. Auch die Statistik des Bundeslandwirtschaftsministeriums spricht eine klare Sprache: Jeden Tag geben in Deutschland gut zehn landwirtschaftliche Betriebe auf.
Rein theoretisch können wir 10 Milliarden Menschen auf dieser Erde gesund und nachhaltig ernähren. Das klappt nach dem Stand der Wissenschaft aber nur, wenn wir 50 Prozent mehr Obst und Gemüse und mehr Hülsenfrüchte und Nüsse auf unseren Feldern und auf unseren Tellern haben. Dazu gehört auch eine regional angepasste, deutlich reduzierte Tierhaltung. Das Ziel ist klar – und das nicht erst seit gestern. An der Praxis fehlt es aber noch. Das sollen nun Ernährungsstrategien ändern. Immer mehr Kommunen und Bundesländer entwickeln Ziele und Maßnahmen für eine nachhaltige und gleichzeitig gesunde Lebensmittelversorgung vor Ort.
Artikelinhalt in Kürze
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Immer mehr Kommunen entwickeln Ernährungsstrategien für ein gesundes, bezahlbares und nachhaltiges Lebensmittelangebot vor Ort.
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Die Vorreiter London und Belo Horizonte zeigen, wie es geht. Und auch einige Kommunen in Deutschland haben bereits eigene Strategien vorgelegt.
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Vor allem die Gemeinschaftsverpflegung wird als wichtiger Hebel gesehen, um die Ernährung der Bevölkerung nachhaltiger zu machen. Bei der Beschaffung von regionalen Bio-Lebensmitteln gibt es jedoch einige Hürden.
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Wissenschaftlich fundierte Erfolgsfaktoren und Instrumente können hilfreich sein, um regionale Ernährungsstrategien zu erarbeiten.
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Initiativen und Netzwerke wie Ernährungsräte und Bio-Städte können viel dazu beitragen, kommunale Ernährungsstrategien auf den Weg zu bringen.
Die Vorreiter
Die Londoner Ernährungsstrategie
London war eine der ersten europäischen Städte, die ihr „foodsystem“ systematisch verbessert haben. Der Plan für die Ernährungswende in London heißt „The London Food Strategy“, auf Deutsch „Die Londoner Ernährungsstrategie“. Sie wurde 2006 auf Initiative des damaligen Bürgermeisters entwickelt. Unterstützt wurde er vom „London Food Board“, einem Beirat, der sich aus unabhängigen Organisationen und Lebensmittel-Expert*innen aus ganz London zusammensetzt. Die „London Food Strategy“ kümmert sich um insgesamt sechs Handlungsfelder:
- Gutes Essen zu Hause,
- gutes Essen kaufen und serviert bekommen,
- gutes Essen in öffentlichen Institutionen und Einrichtungen,
- gutes Essen für Schwangere und Kinder,
- gutes Essen anbauen und
- gutes Essen für die Umwelt.
In jedem Handlungsfeld der Ernährungsstrategie wird erklärt, wer welche Aufgaben übernehmen muss: Was tut die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister? Wofür setzt sie oder er sich ein? Was müssen Bürger*innen tun? Und was müssen andere Akteur*innen beitragen, zum Beispiel Unternehmen?
Im Londoner Bezirk Bexley zum Beispiel gibt es seit einiger Zeit Wertgutscheine für Obst, Gemüse und Milcherzeugnisse für junge Familien. Sie bekommen also finanzielle Hilfen, die sie dabei unterstützen, gesund einzukaufen. Die höhere Nachfrage nach Obst und Gemüse wiederum verbessert das lokale Lebensmittelangebot. Die Wirtschaftsentwicklung kann aber auch noch direkter gesteuert werden, wie sich im Londoner Stadtviertel Camden zeigt. Hier werden Supermarkt-Betreiber*innen beraten, wie sie ihr Lebensmittelsortiment gesünder, fairer und nachhaltiger gestalten können.
Fallbeispiel Belo Horizonte
In der brasilianischen Millionenstadt Belo Horizonte startete der Bürgermeister Patrus Ananaius 1993 ein Programm für Nahrungssicherung. Er wollte erreichen, dass alle Bürger*innen der Stadt jeden Tag ausreichend und gesundes Essen bekommen. Das Programm von Belo Horizonte garantierte das Recht auf gesunde Ernährung für jede*n. Zu den Elementen dieser Strategie gehören unter anderem:
- Die zentrale Koordination des Agrar- und Ernährungs-Programms durch die Stadt,
- 25 preiswerte Produkte auf jedem Markt,
- Orte für die Direktvermarktung von regionalen landwirtschaftlichen Produkte in der ganzen Stadt,
- öffentliche Kantinen mit gesundem regionalem Speiseangebot zu günstigen Preisen in den Stadtteilen,
- das Verteilen von Flächen an Kleinbauern im Rahmen des urbanen Agrikultur-Programmes sowie
- Bildungsaktivitäten.
Broschüre des World Future Council anlässlich des Future Policy Awards für das Ernährungssicherungsprogramm für Belo Horizonte. (PDF-Download, auf Englisch)
Alle diese Maßnahmen machten nur zwei Prozent des städtischen Haushaltes aus. Das Programm führte innerhalb von zwölf Jahren zur Senkung der Kindersterblichkeit um 60 Prozent, zur Senkung der Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren um 75 Prozent und zur Steigerung des Obst- und Gemüsekonsums in der Bevölkerung um 25 Prozent. Im Oktober 2009 wurde das Programm wegen seiner besonders innovativen Gesetzgebung mit dem Future Policy Award des World Future Council ausgezeichnet.
Der vierminütige Film des World Future Council zeigt die Motivation und die Vielfalt der Maßnahmen in Belo Horizonte.
Das Mailänder Abkommen über städtische Ernährungspolitik
Mehr als 100 Städte weltweit haben im Jahr 2015 anlässlich der Weltausstellung das Mailänder Abkommen über städtische Ernährungspolitik (Milan Urban Food Policy Pact) unterzeichnet. Damit verpflichten sie sich, Strategien zu entwickeln, um eine umweltfreundliche, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Ernährung ihrer Einwohner*innen zu fördern.
Das Abkommen ist weit mehr als eine gemeinsame Erklärung von Bürgermeister*innen: Mit 37 konkreten Maßnahmen in sechs Bereichen bietet das Dokument einen fundierten Aktionsrahmen für die städtische Ernährungspolitik – ein optimaler Werkzeugkoffer für Städte und Kommunen, die sich auf den Weg zu eigenen Ernährungsstrategien machen wollen.
Ernährungsstrategien in deutschen Städten und Kommunen
Auch in Deutschland bringen immer mehr Städte und Bundesländer Ernährungsstrategien auf den Weg, zum Beispiel Berlin, Hessen, Baden-Württemberg und Niedersachsen (siehe Linkbox unterhalb des Artikels). Sie sehen häufig in der Gemeinschaftsverpflegung ein vielversprechendes Handlungsfeld. Denn dort gibt es jede Menge Potenzial für konkrete Veränderungen. Wenn Kommunen beschließen, dass zum Beispiel in Kitas und Schulen mehr Bio auf den Tisch kommt, dann nutzen sie einen großen Hebel. Eine besondere Herausforderung ist dabei die Beschaffung von regionalen Bio-Produkten, die sich für die Verarbeitung in Großküchen eignen. Der Anteil an ökologisch erzeugten Lebensmitteln und ihre Qualität wird in öffentlichen Ausschreibungen beschrieben. Diese zu formulieren ist nicht ganz einfach. Mittlerweile gibt es zahlreiche Leitfäden und auch Seminare, die Kommunen bei der nachhaltigen Beschaffung für die Gemeinschaftsverpflegung unterstützen (siehe Link-Tipps unten).
Und auch die Küchenteams sind gefordert. Denn ein saisonal-regional ausgerichteter Speiseplan mit hohem Bio-Anteil und weniger Fleisch kann eine große Umstellung sein. Gewohnte Arbeitsabläufe müssen neu gestaltet, die Beschaffung neu organisiert und manche Küchenfertigkeiten erlernt werden. Berlin beispielsweise hat daher im Rahmen seiner Ernährungsstrategie die "Kantine Zukunft" gegründet, die Beratungs- und Schulungsprogramme für Großküchen organisiert. Sie unterstützt Küchenteams dabei, sich selbst neu zu organisieren und auf viele Praxisfragen Antworten zu finden. Zum Beispiel: Welche Speisen mit saisonalen Zutaten sind kantinentauglich? Wie erhöhe ich den Bio-Anteil bei gleichbleibenden Kosten? Wie kann ich das ganze Tier verwerten, nach dem Konzept "From Nose to Tail" – vom Kopf bis zum Schwanz? Und wie motiviere ich meine Mitarbeiter*innen, beim Kochen neue Wege zu gehen? Die Stadt Freiburg wiederum kombiniert in ihrer Ernährungsstrategie bessere Verpflegungsangebote mit Bildungsmaßnamen.
Herausforderung nachhaltige Beschaffung
Eine große Herausforderung ist es, dass es in vielen Regionen kein ausreichendes Angebot an frischen oder auch vorverarbeiteten Produkten mit gleichbleibender Qualität gibt. So beträgt beispielsweise die Anbaufläche von Bio-Kartoffeln in Brandenburg aktuell nur rund 300 Hektar – viel zu wenig, um den Bedarf an Bio-Kartoffeln in der Berliner Gemeinschaftsverpflegung zu decken.
Auch fehlt es an regionalen Verarbeitungsbetrieben, in denen zum Beispiel die Kartoffeln geschält werden könnten. Für die Vision einer bio-regionalen Gemeinschaftsverpflegung muss sich daher nicht nur die Landwirtschaft ändern, sondern auch der Handel und die regionale Lebensmittelverarbeitung. Das ist eine große Chance für den Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe. Berlin plant daher eine engere Zusammenarbeit mit seinem Nachbarland Brandenburg.
Diese Schritte führen zu einer Ernährungsstrategie
In ihrer Studie „Regionale Ernährungssysteme“ hat die Raumplanerin und Wissenschaftlerin Stephanie Wunder Erfolgsfaktoren und Instrumente zusammengestellt sowie zentrale Schritte identifiziert, die hilfreich sein können, um regionale Ernährungsstrategien zu erarbeiten:
- Eine Vorbereitungsphase dient dazu, Bündnisse zu bilden, Unterstützung aus Politik, Forschung, Zivilgesellschaft und von Akteur*innen des lokalen Ernährungssystems zu gewinnen, aber auch Finanzierungsmöglichkeiten zu erschließen. Schon in dieser Phase braucht es eine Arbeitsgruppe und/oder Person zur Koordinierung des Prozesses. Wichtig ist, dass diese Koordinationsstelle nicht nur über fachliche Expertise, sondern auch über Expertise zur Netzwerkarbeit und zur Moderation unterschiedlichster Akteur*innen verfügt sowie eine institutionelle Verortung hat, zum Beispiel in einer Stadtverwaltung oder einer externen Organisation. Zu diesem Zeitpunkt beginnt idealerweise auch die erste Verständigung über Ziele, den Zeitplan und die weitere Vorgehensweise sowie die sorgfältige Planung eines Beteiligungsprozesses.
- Räumliche Definition und Grenzen des regionalen Ernährungssystem: Klärung der Frage: Was ist regional und was nicht?
- Entwicklung eines gemeinsamen Leitbildes und einer Zukunftsvision der für diesen Raum wesentlichen Akteur*innen.
- Bestandsaufnahme: Wie wird die Stadt oder Region mit Lebensmitteln versorgt? Wie steht es um die Gesundheit der Bevölkerung? Welche Stärken, Schwächen und Potenziale gibt es in dem Ernährungssystem? Welche Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten?
- Priorisierung der Handlungsfelder, aber auch politischer Instrumente für die Entwicklung der regionalen Ernährungsstrategie.
- Zur Umsetzung der Strategie gehört dann die Definition von konkreten Zielen und Verpflichtungen. Aus den Zielen werden die Maßnahmen abgeleitet, mit denen man die Ziele am besten erreichen kann. Auf dieser Basis müssen Verantwortlichkeiten, Meilensteine und Messkriterien festgelegt werden. Empfohlen wird auch, erste Modellprojekte durchzuführen, die als Türöffner wirken und Lernen ermöglichen.
- Schließlich geht es um kontinuierliches Monitoring des Fortschrittes und die Weiterentwicklung mit Hilfe von Indikatoren, etwa aus dem Milan Urban Food Policy Pact.
- Erfahrungsaustausch und Vernetzung mit anderen Städten, Ländern und dem Bund.
Diese Aufzählung stellt einen idealtypischen Ablauf vor. In der Realität können unterschiedliche Schritte des Prozesses auch gleichzeitig passieren.
Initiativen und Netzwerke wie Ernährungsräte und Bio-Städte können viel dazu beitragen, kommunale Ernährungsstrategien auf den Weg zu bringen. Weiterführende Artikel haben wir weiter unten für Sie verlinkt.
Fragen und Antworten zu Ernährungsstrategien
Wie entstehen Ernährungsstrategien?
Der Anstoß zu einer Ernährungsstrategie kann von ganz unterschiedlichen Akteur*innen kommen: von Bürgermeister*innen oder aus der Stadtverwaltung, von Ernährungsräten oder aus Forschungsprojekten. Die Basis ist die Erkenntnis, dass Ernährung auch eine kommunale Aufgabe ist, die gestaltet werden muss. Daher braucht es die gute Zusammenarbeit von unterschiedlichen Fachämtern wie Soziales, Gesundheit, Stadtplanung und Umwelt. Denn Ernährung ist ein Querschnittsthema. Auch Zivilgesellschaft, Wirtschaft, NGOs und Wissenschaft müssen mit einbezogen werden, denn es braucht das Know-how aus allen Bereichen.
Welche Erfolgsfaktoren gibt es für städtische Ernährungsstrategien?
Gleich, ob eine Ernährungsstrategie „von oben“ durch die Politik, oder „von unten“ durch die Zivilgesellschaft, zum Beispiel durch Ernährungsräte,angestoßen wird –entscheidend ist, dass der Prozess möglichst viele unterschiedliche Akteur*innen mitbeteiligt. Politische Strategien müssen mit den Bedürfnissen vor Ort in Einklang gebracht werden. Und es braucht eine breite Unterstützung bei der Umsetzung. Das war das Ergebnis einer Studie von Jess Halliday und Corinna Hawkes. Die britischen Wissenschaftlerinnen für Ernährungspolitikhaben fünf Städte untersucht, die Ernährungsstrategien entwickelt haben,und arbeiteten folgende Erfolgsfaktoren heraus:
- eine Vision bzw. der Wille zu Veränderung und das Commitment der Politik,
- langfristige Maßnahmen, auch über mehre Wahlperioden hinweg,
- Datengrundlage: Baseline-Erhebungen, Monitoring und „Learning byDoing“,
- eine strategische Abteilung, ausgestattet mit Handlungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten, um die Initiative ergreifen zu können,
- Unterstützung auf nationaler Ebene,
- ein Steuerungskreis mit vielen Akteur*innen,
- gegenseitige Unterstützung und Partnerschaften mit anderen Abteilungen,
- politische Prozesse, die inklusiv sind, viele Akteur*innenund Sektoren integrieren,
- gute Wege der Konfliktbewältigung,
- Finanzierung durch die Stadt bzw. Kommune, aber auch durch andere Geldquellen und
- die Zurverfügungstellung von Finanzmittelnmit größtmöglichen Freiheiten, nicht an Auflagen gebunden.
Quelle: Hawkes and Halliday 2017: What makes urban food policy happen?
Insights from five case studies. International Panel of Experts on Sustainable Food Systems. ipes-food.org/reports
Fünf gute Argumente für Ernährungsstrategien
- Ernährungspolitik ist ein Querschnittsthema und betrifft viele Politikbereiche, zum Beispiel Gesundheit, Raumplanung, Bildung, Kultur, Wirtschaft und Tourismus. Alle diese Bereiche nehmen Einfluss auf das Ernährungssystem. Werden die Kräfte gebündelt, dann lässt sich viel erreichen. Das zeigt sich bei Bio-Städten oder Städten mit starken Ernährungsräten.
- Eine regionale Ernährungsstrategie birgt große Chancen. Sie stärkt die Verbindung zwischen Stadt und Land, fördert Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung, und damit auch die Wertschöpfung in der Region.
- Mit einer Ernährungsstrategie können Kommunen auf die Art und Weise Einfluss nehmen, wie Lebensmittel erzeugt und verarbeitet werden, wie Menschen bezahlt werden und welche Lebensmittel Bürger*innen zur Verfügung stehen.
- Eine Ernährungsstrategie kann dazu beitragen CO2-Emissionen zu senken. Die Zukunft unserer Ernährung wird davon abhängen, ob die Landwirtschaft bis spätestens 2040 mehr CO2 im Boden bindet als freisetzt. Kommunale Ernährungsstrategien können solche Veränderungen fördern, indem sie landwirtschaftlichen Betrieben, die den Anbau nachhaltiger gestalten wollen, mehr Planungssicherheit bieten.
- Ernährungsstrategien sind bürgernah, setzen individuelle Akzente und sind an den Ort angepasst. Sie sind eine große Chance, Nachhaltigkeitsziele mit Leben zu füllen und den Rahmen für eine fröhliche öffentliche Ernährungskultur in den Kommunen zu schaffen.