- Städte und Regionen gehen voran und entwickeln Ernährungsstrategien für ein gesundes, bezahlbares und nachhaltiges Lebensmittelangebot vor Ort.
- Die Vorreiter London und Belo Horizonte zeigen, wie es geht. Auch in eingen deutschen Kommunen gibt es Ernährungsstrategien.
- Die Gemeinschaftsverpflegung wird als Hebel gesehen, um die Ernährung der Bevölkerung nachhaltiger zu machen. Bei der Beschaffung von regionalen Bio-Lebensmitteln gibt es jedoch einige Hürden.
- Mittlerweile gibt es auch eine Reihe von Studien, die Erfolgsfaktoren und Vorgehensweisen für die Entwickung und Umsetzung von Ernährungsstrategien identifiziert haben.
- Initiativen und Netzwerke wie Ernährungsräte und Bio-Städte können viel dazu beitragen, kommunale Ernährungsstrategien auf den Weg zu bringen.
Warum eigentlich Ernährungsstrategien?
Rein theoretisch können wir 10 Milliarden Menschen auf dieser Erde gesund und nachhaltig ernähren. Das klappt nach dem Stand der Wissenschaft aber nur, wenn mehr als doppelt so viel Obst und Gemüse und viel mehr Hülsenfrüchte und Nüsse auf unseren Feldern und auf unseren Tellern haben. Dazu gehört auch eine deutlich reduzierte Tierhaltung, angepasst an die verfügbaren Flächen und Bedingungen vor Ort. Das Ziel ist klar – und das nicht erst seit gestern. An der Praxis fehlt es aber noch. Das sollen nun Ernährungsstrategien ändern. Immer mehr Kommunen und Bundesländer entwickeln Ziele und Maßnahmen für eine nachhaltige und gleichzeitig gesunde Lebensmittelversorgung vor Ort.
Aus einer guten Idee wurde mittlerweile eine internationale Bewegung – das Mailänder Abkommen über städtische Ernährungspolitik. Fast 300 Städte weltweit haben den “Milan Urban Food Policy Pact” schon unterzeichnet. Damit verpflichten sie sich, Strategien zu entwickeln, die vor Ort ein nachhaltiges, wirtschaftliches und sozialverträgliches Lebensmittelangebot schaffen. Die Basis liefert ein Aktionsrahmen für die städtische Ernährungspolitik. Er enthält 37 konkrete Maßnahmen in sechs Bereichen und ist ein hilfreicher Werkzeugkoffer auf dem Weg zur regionalen Ernährungstransformation. Mehr auf der Website des Milan Urban Food Policy Pact.
Best Practice: Die Londoner Ernährungsstrategie
London war eine der ersten europäischen Städte, die ihr „foodsystem“ systematisch verbessert haben. Der Plan für die Ernährungswende in London heißt The London Food Strategy. Sie wurde 2006 auf Initiative des damaligen Bürgermeisters entwickelt. Unterstützt wurde er dabei vom „London Food Board“, einem Beirat, der sich aus unabhängigen Organisationen und Lebensmittel-Fachleuten aus ganz London zusammensetzt. Die London Food Strategy deckt insgesamt sechs Handlungsfelder ab:
- Gutes Essen zu Hause
- Gutes Essen kaufen und serviert bekommen
- Gutes Essen in öffentlichen Institutionen und Einrichtungen
- Gutes Essen für Schwangere und Kinder
- Gutes Essen anbauen
- Gutes Essen für die Umwelt
In jedem Handlungsfeld wird erklärt, wer welche Aufgaben übernehmen muss, damit die Ernährungswende gelingt: Was tut die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister? Wofür setzt sie oder er sich ein? Was müssen Bürgerinnen und Bürger tun? Und was müssen andere Agierende beitragen, zum Beispiel Unternehmen?

Im Londoner Bezirk Bexley zum Beispiel gibt es seit einiger Zeit Wertgutscheine für Obst, Gemüse und Milcherzeugnisse für junge Familien. Sie bekommen also finanzielle Hilfen, die sie dabei unterstützen, gesund einzukaufen. Die höhere Nachfrage nach Obst und Gemüse wiederum verbessert das lokale Lebensmittelangebot. Die Wirtschaftsentwicklung kann aber auch noch direkter gesteuert werden, wie sich im Londoner Stadtviertel Camden zeigt. Hier werden Supermarkt-Betreibende beraten, wie sie ihr Lebensmittelsortiment gesünder, fairer und nachhaltiger gestalten können.
Fallbeispiel Belo Horizonte
In der brasilianischen Millionenstadt Belo Horizonte startete der Bürgermeister Patrus Ananaius 1993 ein Programm für Nahrungssicherung. Er wollte erreichen, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt jeden Tag ausreichendes und gesundes Essen bekommen. Das Programm von Belo Horizonte garantierte das Recht auf gesunde Ernährung für Alle. Zu den Elementen dieser Strategie gehören unter anderem:
- Die zentrale Koordination des Agrar- und Ernährungs-Programms durch die Stadt,
- 25 preiswerte Produkte auf jedem Markt,
- Orte für die Direktvermarktung von regionalen landwirtschaftlichen Produkten in der ganzen Stadt,
- öffentliche Kantinen mit gesundem, regionalem Speiseangebot zu günstigen Preisen in den Stadtteilen,
- das Verteilen von Flächen an Kleinbäuerinnen und -bauern im Rahmen des urbanen Agrikultur-Programmes sowie
- Bildungsaktivitäten.
Alle diese Maßnahmen kosteten nur zwei Prozent des städtischen Haushaltes. Das Programm führte innerhalb von zwölf Jahren zur Senkung der Kindersterblichkeit um 60 Prozent, zur Senkung der Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren um 75 Prozent und zur Steigerung des Obst- und Gemüsekonsums in der Bevölkerung um 25 Prozent.
Im Oktober 2009 wurde das Programm wegen seiner besonders innovativen Gesetzgebung mit dem Future Policy Award des World Future Council ausgezeichnet.
Wenn Sie externe Inhalte von YouTube aktivieren, werden Daten automatisiert an diesen Anbieter übertragen.
Mehr Informationen
Ernährungsstrategien in deutschen Kommunen und Regionen
Auch in Deutschland haben immer mehr Städte und Bundesländer Ernährungsstrategien entwickelt, zum Beispiel Berlin, Hessen, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist es, in Kantinen, Restaurants und öffentlichen Küchen mehr bio-regionales Essen anzubieten. Denn wenn Kommunen beschließen, dass in Kitas und Schulen mehr Bio auf den Tisch kommt, dann können sie viel verändern. Eine besondere Herausforderung ist die Beschaffung von regionalen Bio-Produkten in den passenden Qualitäten und Mengen. Für den Einkauf solcher Lebensmittel gibt es daher Leitfäden und auch Seminare.
Die Küchenteams sind ebenfalls gefordert. Denn ein saisonal-regional ausgerichteter Speiseplan mit hohem Bio-Anteil und weniger Fleisch kann eine große Umstellung sein. Dabei hilft in Berlin beispielsweise die “Kantine Zukunft”. Das von der Stadt geförderte Projekt bietet Schulungsprogramme für Küchenteams und gibt Antworten auf Praxisfragen wie zum Beispiel: Welche Speisen mit saisonalen Zutaten sind kantinentauglich? Wie erhöhe ich den Bio-Anteil bei gleichbleibenden Kosten? Und wie motiviere ich meine Mitarbeitenden? Die Stadt Freiburg wiederum kombiniert bessere Verpflegungsangebote mit Bildungsmaßnamen.
Fragen und Antworten zu Ernährungsstrategien
Der Anstoß zu einer Ernährungsstrategie kann von ganz unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren kommen: aus der Stadtverwaltung, von Ernährungsräten oder aus Forschungsprojekten. Die Basis ist die Erkenntnis, dass Ernährung auch eine kommunale Aufgabe ist, die gestaltet werden muss. Daher braucht es die gute Zusammenarbeit von unterschiedlichen Fachämtern wie Soziales, Gesundheit, Stadtplanung und Umwelt. Denn Ernährung ist ein Querschnittsthema. Auch Zivilgesellschaft, Wirtschaft, NGOs und Wissenschaft müssen mit einbezogen werden, denn es braucht das Know-how aus allen Bereichen.
Die Wissenschaftlerin Stephanie Wunder hat in einer internationalen Vergleichsstudie zentrale Schritte auf dem Weg zur regionalen Ernährungsstrategie identifiziert:
- Bündnisse bilden, um die Unterstützung aus Politik, Forschung, Zivilgesellschaft und von Akteurinnen und Akteuren des lokalen Ernährungssystems zu gewinnen, aber auch Finanzierungsmöglichkeiten zu erschließen.
- Grenzen definieren: Was ist regional und was nicht?
- Zukunftsvision entwickeln.
- Bestandsaufnahme: Wie steht es um die regionale Lebensmittelversorgung? Wie um die Gesundheit der Bevölkerung? Was sind Stärken, Schwächen und Potenziale, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten?
- Priorisierung der Handlungsfelder und der politischen Instrumente.
- Umsetzung: Definition von politischen Zielen und Verpflichtungen. Daraus werden die Maßnahmen abgeleitet und entsprechend Verantwortlichkeiten, Meilensteine und Messkriterien festgelegt.
- Monitoring des Fortschrittes mit Hilfe von Indikatoren, etwa aus dem Milan Urban Food Policy Pact.
- Erfahrungsaustausch und Vernetzung mit anderen Städten, Ländern und dem Bund.
In der Realität können unterschiedliche Schritte des Prozesses auch gleichzeitig passieren. Es wird auch empfohlen, mit Modellprojekten zu starten, die Experimentieren und Lernen ermöglichen und die Akzeptanz fördern.
Britische Wissenschafterinnen haben untersucht, welche Faktoren Ernährungsstrategien erfolgreich machen. Dazu gehören:
- Eine Vision, der Wille zur Veränderung und das Commitment der Politik,
- langfristige Maßnahmen, auch über mehre Wahlperioden hinweg,
- eine wissenschaftliche Datengrundlage mit Baseline-Erhebungen, Monitoring und Learning by Doing,
- eine strategische Abteilung, die mit Befugnissen ausgestattet ist, um eigenverantwortlich zu handeln,
- ein Steuerungskreis mit vielen Akteurinnen und Akteuren,
- gegenseitige Unterstützung und Partnerschaften mit anderen Abteilungen,
- inklusive Prozesse, die viele unterschiedliche Beteiligte und Sektoren integrieren,
- gute Wege der Konfliktbewältigung,
- Finanzierung durch die Stadt bzw. Kommune, aber auch durch andere Geldquellen,
- Finanzmittel mit größtmöglichen Freiheiten, die nicht an Auflagen gebunden sind sowie
- Unterstützung auf nationaler Ebene.
Hier geht es zur Studie: What makes urban food policy happen?